Autofreier Sonntag

Stürmische Zeiten in zehn Teilen

Stand: 10.08.2017, 13:06 Uhr

Opel Manta, Nackt-Disco, Demo gegen den Maxi-Rock, Pocken in Meschede, der Film "Smog": Wir befinden uns in den 70ern in Nordrhein-Westfalen. Mit aufschlussreichen Archivaufnahmen und überraschenden Zeitzeugen zeichnet eine neue WDR-Dokumentation in zehn Folgen das Bild eines Bundeslandes im Wandel der Zeit.

"Die wirtschaftliche Lage entwickelte sich im Laufe des Jahrzehnts von rosig zu schwierig. Im Sozialen wurden viele starre Regeln aus den 60ern über Bord geworfen. Aus Rock wurde Disco-Musik. Und die Mode änderte sich sehr." Jobst Knigge beschreibt die 70er als Zeit des Umbruchs. Der 1967 geborene Autor hat den Film über das Jahr 1970 gedreht und die zehnteilige Reihe des WDR über die 70er Jahre als Head-Autor betreut.

Insgesamt sieben Autorinnen und Autoren wühlten monatelang in den Stadt- und Landesarchiven, recherchierten bei Lokalzeitungen und sichteten das WDR-Archiv, das Knigge gerne als "den großen Goldschatz" bezeichnet. Dabei förderten sie teils beeindruckende, teils lustige Zeitdokumente zu Tage. So demonstrierten 1970 in Dortmund 6000 Frauen, unterstützt von der örtlichen Feuerwehr, gegen den Maxirock. Sie wollten nicht, "dass uns aufdiktiert wird, was wir tragen müssen", sagt eine Teilnehmerin ins WDR-Mikrofon, sie fände diese Demonstration "fabelhaft". Die Sprache war damals noch eine andere, meint Knigge, gewaltbereite Hooligans beschimpften sich im Fernsehen gegenseitig als "Hänflinge". Zugleich seien manche Dinge ihm sonderbar modern vorgekommen. So fand er in den Archiven einen Bericht über eine "Nackt-Disco".

Juliane Werding mit Gitarre

Die Essenerin Juliane Werding: Ihr gelang mit "Am Tag als Conny Kramer starb" der Sprung in die deutschen Charts.

Knigge hatte bereits 2016 mit "Unser Land – Stürmische Zeiten – die 70er" für den WDR eine 45-minütige Dokumentation über das Jahrzehnt geliefert, jetzt haben er und seine Kollegen zehn Mal so viel Sendezeit. "In einer Dreiviertelstunde hatten wir etwas Schwierigkeiten, das gesamte Land einzufangen. Weil natürlich Ruhrgebiet und Rheinland sehr prägend sind, auch die Bundeshauptstadt Bonn. Jetzt haben wir festgestellt, wie viel in Westfalen, im Sauerland, am Niederrhein passiert ist."

Unsere Alltagshelden

Thematisch reicht die Bandbreite von Kunst über Architektur, Sport, Wirtschaft, Mode, Umwelt, Politik bis zum ersten Opel Manta, der 1970 vom Band lief. In allen Filmen kommen auch Zeitzeugen zu Wort, prominente und nicht prominente, die über einschneidende Erlebnisse in ihrem Leben berichten. "Berti Vogts redet also nicht über den neuen Opel Manta", betont Knigge. Der Fußballstar der 70er erinnert sich natürlich an seine Siege mit Borussia Mönchengladbach – und seinen Wettstreit mit Günter Netzer, wer von beiden das schnellere Auto fährt – keine Opel übrigens. Marie-Luise Marjan spricht über ihre Rolle im Skandalfilm "Smog", und Annemie Fussbroich erinnert sich an die Dreharbeiten zu "Ein Kinderzimmer" (1979): Zehn Jahre vor dem Start der WDR-Kultserie "Die Fussbroichs" stand Sohn Frank, der gerne Fernsehwerbejingles mitsang, im Mittelpunkt einer Dokumentation.

Neben Tragödien und Ereignissen wie die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer durch die "Rote Armee Fraktion" oder die Fußball-WM 1974, haben die Autoren auch Geschichten ausgegraben, die es nicht ins kollektive Gedächtnis schafften. Eine Krankenschwester berichtet beeindruckend, wie sie die Pocken überlebte, die Meschede 1970 heimsuchten. Zwei Brüder aus Herne erzählen, dass sie als glühende John-Travolta-Fans versuchten, echte Disco-Könige zu werden. Die Vorsitzende des SV Fortuna Seppenrade erinnert sich an die WM 1974, bei der ihr verstorbener Mann offizieller Betreuer der Mannschaft von Zaire war, und so in Lüdinghausen-Seppenrade der Fußball die Völkerverständigung förderte.

Der Marathonlauf wird weiblich

Viele der gezeigten Aufnahmen waren seit ihrer Ausstrahlung nicht mehr im Fernsehen zu sehen. Zum Beispiel ein Bericht von 1973 über den ersten Marathonlauf, an dem Frauen teilnehmen durften. Warum, fragt der damalige Autor kritisch, müssen Frauen nun auch noch hier mittun? Der Marathonlauf sei schließlich seit altgriechischen Zeiten den Männern vorbehalten gewesen.

Als kleines Extra hat der WDR für jede Folge prominente Sprecherinnen und Sprecher engagiert, die jeweils in dem Jahr geboren wurden, um das es geht. Esther Schweins (1970), Anette Frier (1974), Joko Winterscheidt (1979), beispielsweise.

1971, das Jahr der Skandale

Obwohl sich der Mensch gemeinhin ganz schlecht an Ereignisse aus seinem Geburtsjahr erinnern kann, "fühlt man sich schon mit dem Jahr verbunden", meint Knigge, "Esther Schweins war ganz fasziniert, welche Lieder aus 'ihrem Jahr' stammen. Sie hat auch ihre Mutter angerufen und gefragt, ob sie sich an diesen endlosen Winter erinnert."

Das Wesentliche, das bestimmende Thema des jeweiligen Jahres, hat das Team versucht, im Titel der Filme zusammenzufassen. "1971 nennen wir 'Das Jahr der Skandale': Da gab es den großen Bundesliga- Skandal, große Umweltskandale und den Stern-Titel zum Paragraphen 218." Knigge staunt selber, wie gut das funktioniert, jedem Jahr quasi ein Motto zuzuordnen. "Als wir nach den Sternen griffen – 1972": Das Radioteleskop Effelsberg nimmt seinen Betrieb auf, und das Raumschiff Enterprise erforscht erstmalig die unendlichen Weiten im deutschen Fernsehen.

Übrigens: Sechs Jahre nach dem Film "Smog" legte 1979 der erste große Smogalarm Dortmund lahm. Der Maxirock ließ sich auf Dauer nicht verhindern und fand in der Mode zu einer friedlichen Koexistenz mit anderen Saumlängen.

Vom 11. August bis 13. Oktober zeigt das WDR Fernsehen immer freitags um 20.15 Uhr einen Teil der zehnteiligen Reihe.