Georgine Kellermann lebt seit September 2019 öffentlich als Transgender.

"Künftig feiere ich dreimal Geburtstag!"

Stand: 22.09.2020, 08:10 Uhr

Im September 2019 machte die Leiterin des WDR-Studios Essen öffentlich, dass sie nicht Georg sondern Georgine Kellermann ist. Im Interview blickt sie auf das vergangene Jahr.

  • Warum Georgine Kellermann künftig dreimal Geburtstag feiert
  • Wie sich ihr Leben nach dem Outing verändert hat
  • Warum die WDR-Studioleiterin öffentlich über ihre Biografie redet
  • Welche Unterstützung sie in ihrem Team und dem WDR fand

Frau Kellermann, feiern Sie jetzt eigentlich zweimal im Jahr Geburtstag?

Georgine Kellermann: Ich feiere zukünftig dreimal! Am 17. September war das Outing, vier Tage später ist mein eigentlicher Geburtstag. Und am 4. September dieses Jahres habe ich meine neue Geburtsurkunde vom Standesamt meiner Heimatstadt Ratingen bekommen. Darin steht jetzt: Georgine Kellermann, Geschlecht: weiblich. Auch diesen Tag werde ich als Feiertag in den Kalender eintragen.

Gehört Georg damit endgültig der Vergangenheit an?

Kellermann: Transgender benutzen die Bezeichnung „Dead Name“ für den Namen, den sie nicht mehr haben wollen. Wenn mir jetzt noch manchmal jemand an Georg Kellermann schreibt, antworte ich: „Georg gibt es nicht mehr.“ Er ist Vergangenheit, aber natürlich trotzdem Teil meines Lebens. Ich kann ja das, was Georg erlebt und geleistet hat, nicht mit einem Federstrich ungültig machen. Im Gegenteil: Ich bin stolz darauf. Georgine war immer da, aber Georg hat sie nicht gelassen. Und das hat sich vor einem Jahr geändert. Jetzt gibt es nur noch Georgine – und deshalb fühle ich mich frei.

Wie hat sich Ihr Leben seit dem Outing verändert?

Kellermann: Da weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll... Das Allerwichtigste war natürlich: Mich selbst zu erleben in einer Situation, von der ich nie so richtig geglaubt habe, dass es die mal geben wird. Mich wie das Küken aus dem Ei zu sprengen und endlich ich selbst zu sein. Dann habe ich unendlich viel Unterstützung erfahren – zu allererst an meinem Arbeitsplatz. Das Team hier in Essen hat mich mit einer Empathie und Fürsorglichkeit getragen, von der ich nicht genau wusste, aber ahnte, dass es sie gibt. Meine kühnsten Hoffnungen sind bei Weitem übertroffen worden.

Bereuen Sie, dass Sie den Schritt nicht früher gewagt haben? Oder war es einfach der richtige Zeitpunkt?

Kellermann: Es war der richtige Zeitpunkt. Ich habe mit einem Vorgesetzten beim WDR schon in den 80er Jahren darüber gesprochen. Uns war beiden klar, dass es eine folgenreiche Entscheidung wäre. Ich weiß nicht, ob ich danach vor der Kamera hätte arbeiten können. Der WDR war immer ein sehr offenes und liberales Unternehmen, aber er konnte sich nicht frei machen vom gesellschaftlichen Umfeld. Die Gesellschaft hat sich seitdem verändert. Und ich habe den Eindruck, dass wir schon viel weiter sind, als wir uns das manchmal vorstellen können.

Mittlerweile sind Sie schon mehrfach als Georgine vor die Kamera getreten ...

Kellermann: Ja, zuletzt in einem Facebook-Live über die Wahlberichterstattung aus dem Studio Essen. Es gibt so viele nette Kommentare. Natürlich gibt es auch ein paar Stimmen, die meinen: „Watt? Ein Mann, der sich schminkt?“ Aber die werden von der Community sofort eingefangen. Es ist so viel Unterstützung da und auch so viel Lob für den WDR, der das möglich macht. Dafür bin ich total dankbar.

Im privaten Raum haben Sie schon lange als Frau gelebt, hatten nach eigener Aussage bereits drei Kleiderschränke voll Frauenkleidung und ihren Stil gefunden. Gab es Aspekte Ihres Frauseins, in die Sie nach dem Outing erst reinwachsen mussten?

Kellermann: Geschminkt habe ich mich vorher auch, wenn auch selten, weil es mir für zu Hause zu viel Arbeit war. Aber die Haare – sie wurden in dem Jahr nicht mehr geschnitten. Meine Friseurin freut sich, daraus jetzt was machen zu können, weil ich mir nicht vorstellen kann, eine Perücke zu tragen.

Haben Sie, seit sie offen als Frau leben, Dinge entdeckt, mit denen sie vorher nicht gerechnet hätten?

Kellermann: Es gibt eigentlich nur einen Unterschied zwischen vorher und nachher: Ich erlebe ein Glück, das ich 62 Jahre lang nicht gekannt habe. Natürlich hat es glückliche Momente in meinem Leben gegeben. Aber in dieser Unendlichkeit: Das ist ganz neu.

In einem „Zeit“-Interview haben Sie erzählt, dass Sie mit Ende 20 über eine operative Geschlechtsangleichung nachgedacht haben. Aus Angst um ihren Job haben Sie dann doch davon abgesehen und öffentlich weiter als Mann gelebt. Wie denken Sie heute über das Thema Operation?

Kellermann: Ich stelle mir die Frage 100 Mal am Tag und beantworte sie 100 Mal anders. Der Wunsch ist da, aber ich habe Angst vor dem Skalpell, vor Schmerzen, dass was schiefgeht. Vielleicht mache ich es irgendwann doch noch. Das ist aber nicht das Wichtigste. Am wichtigsten ist die Frage, wer ich bin. Und die Frage ist beantwortet: Ich bin eine Frau.

Sie gehen offensiv mit Ihrer Geschichte um, wollen anderen Transfrauen Mut machen. Wären Sie nicht manchmal gerne einfach nur Frau, ohne ständig darüber reden zu müssen, dass Sie mal als Mann gelebt haben?

Kellermann: Ich rede gar nicht so oft darüber und nur dann, wenn ich es selber möchte. Außerdem bekomme ich die Rückmeldung, dass diese Sichtbarkeit vielen Menschen hilft. Das ist mir wichtig. Letztens bekam ich eine Nachricht von einem Lehrer, der einen Transjungen in der Klasse hat. Der wollte sich eigentlich erst nach dem Abitur outen, konnte dann aber nicht mehr warten und vertraute sich dem Lehrer an. „Ich war auf das Gespräch vorbereitet, weil ich Ihnen in Social Media folge“, schrieb der Lehrer mir. Da passiert was, und ich bin Teil dessen – das macht mich dankbar.

Sie haben auch Briefe von WDR Mitarbeiter*innen erhalten, die ebenfalls bisher nicht gewagt haben, sich als Transgender zu outen – was raten Sie denen?

Kellermann: Es sagt sich so leicht: „Tut es!“ Es gibt ja die vermeintliche äußere Barriere und die innere Barriere. Ich habe eine ganze Weile mit einer Therapeutin gearbeitet, um diese innere Barriere zu überwinden. Mein Rat ist: Räumt die innere Barriere weg, die äußere gibt es nicht so, wie ihr euch das vorstellt. Vertraut euch Freunden an und sucht das Gespräch mit Vorgesetzten!

Als ich Kurt Schumacher, dem Leiter der Personalabteilung, schrieb, dass es in meinem Leben eine dramatische Veränderung gab, hat er so bewegend reagiert, dass es mir die Tränen in die Augen trieb. Wenige Tage später waren mein Telefonbucheintrag, meine Email-Adresse und mein Türschild geändert. Ich war zwar der prominenteste, aber nicht der erste Fall im WDR. Die Gleichstellungsbeauftragte Britta Frielingsdorf unterstützt gerne. Der Betriebsarzt Dr. Neuber ist ebenfalls ein wunderbarer Ansprechpartner, der mir sehr geholfen hat.