Fragen und Antworten

Hintergründe zum Hörspiel "Vom Wind verweht - Die Prissy Edition"

Stand: 01.03.2021, 18:34 Uhr

Hörspieldramaturgin Christina Hänsel spricht über die Entwicklung des Projekts, den Umgang mit dem historischen Material und die aktuelle, eigens für das Hörspiel erarbeitete Erzählebene.

Warum hat der WDR gerade diesen Stoff als Hörspiel produziert?

Unsere ersten Überlegungen zu diesem Stoff liegen bereits gut fünf Jahre zurück. Fokus der Auswahl lag damals darauf, ein Werk einer Autorin mit einer überraschenden, unkonventionellen weiblichen Hauptfigur zu realisieren. Das Ziel: mehr Stoffe von Autorinnen, Bearbeiterinnen, Regisseurinnen und mit großen weiblichen Hauptrollen im Repertoire zu haben. Die Frage nach dem Umgang mit dem doppelten Rassismus des Stoffs – dem der portraitierten 1860er Jahre und dem der Entstehungszeit in den 1930ern – war selbstverständlich von Anfang an zentral. Daher haben wir alle Erzählpassagen in die Hände der Versklavten gelegt, um ihnen eine wichtige Rolle und eine Stimme zu geben, sie nicht zu Statist*innen zu degradieren. 

Mit der verstärkten soziopolitischen Auseinandersetzung mit dem Thema Rassismus nach dem Tod von George Floyd letzten Mai in Minneapolis stellten wir uns die Frage, ob wir diesen Stoff weiterhin produzieren können/sollen/wollen. Nach vielen Diskussionen haben wir uns entschieden, das Projekt auszuweiten, es um eine aktuelle afrodeutsche Ebene zu ergänzen. Wir möchten die Chance, die dieser massenattraktive Stoff bietet, nutzen, um möglichst viele Menschen mit Symptomen und Strukturen rund um historischen und aktuellen Rassismus vertraut zu machen. Zudem spüren wir als in einem öffentlich-rechtlichen Sender Arbeitende eine Verantwortung: Es ist unser Anliegen, mit einem Stoff, der Teil unseres popkulturellen Gedächtnisses ist, so umzugehen, dass er weitergedacht wird, produktiv gemacht für eine Auseinandersetzung mit Formen des Rassismus.

Was ist an dem Hörspiel "Vom Wind verweht - Die Prissy Edition" so anders als in der Romanvorlage von Margaret Mitchell?  

Wir haben in der Bearbeitung die Romanvorlage kondensiert, einige Figuren und Geschehnisse finden dadurch im Hörspiel keinen Niederschlag. Die Stränge der Geschichte sind erhalten geblieben. Wir haben keine Figur in dem historischen Teil dazuerfunden, sie aber teilweise anders interpretiert. Beispielsweise legt Mitchell die Sklavin Prissy als tollpatschig an. In unserer Bearbeitung zeigen wir dies als Prissys Form des Widerstands: Sie will sich nicht dienstbar machen lassen und verweigert, reibungslos im System der Ausbeutung der Sklav*innen mitzuarbeiten. Von Prissy ausgehend hat die Theatermacherin Amina Eisner eine zusätzliche Erzählebene geschaffen: Eine afrodeutsche Familie im heutigen Berlin spürt dem Erbe ihrer Vorfahrin Prissy nach und lässt uns Alltagsrassismus, Aktivismus und Familienleben miterleben.  

Es gibt Menschen, die finden, dass dieser Roman nicht mehr gelesen werden sollte. Was antwortet ihr ihnen?  

Ich glaube nicht, dass wir weiterkommen, wenn wir alles aussparen, was nicht unserem momentanen Wissensstand, aktuellen Diskursen und Zeitgeist entspricht. Ich glaube es ist wichtig, um unsere Gegenwart zu verstehen, die Vergangenheit gut zu kennen. Der Roman ist ein Zeugnis aus einer rassistischen Zeit über eine rassistische Zeit. Um den Rassismus heute zu verstehen und ihn zu bekämpfen ist es wichtig, sich seine Wurzeln vor Augen zu halten. Zudem ist aus unserer momentanen Perspektive ein Werk aus einer anderen Epoche selten in allen moralischen und weltanschaulichen Dingen lupenrein. An dem Stoff hat uns interessiert und fasziniert, wie in dieser Zeit, in der Frauen alles andere als gleichberechtigt waren, eine starke, untypische weibliche Hauptfigur geschaffen wurde. Was diesen Teil der Geschichte anbelangt, ist "Vom Wind verweht" bis heute unumstritten.

Warum erzählt ihr nicht eure eigene Geschichte?  

So paradox das klingt: Das tun wir. Dadurch, dass der Fokus ursprünglich auf der Entwicklung Scarletts liegt, erzählen wir (als weiße Frauen: Autorin, Bearbeiterin und Dramaturgin) die Geschichte einer weiblichen Emanzipation, eines weiblichen Aufbegehrens gegen patriarchale Strukturen. Zum einen um spürbar zu machen, wie weit wir als Frauen bereits gekommen sind, zum anderen um aufzuzeigen, wie weit der Weg noch ist. 

Die Zusatzebene um Celeste im heutigen Berlin hat Amina Eisner geschrieben. Sie ist eine afrodeutsche Regisseurin, Schauspielerin und Autorin und bereichert die Geschichte um eine weibliche Schwarze Perspektive.

Warum werden die Sklav*innen nicht von Schwarzen Schauspieler*innen gesprochen?

Grundsätzlich war uns wichtig, dass wir die Schauspieler*innen, die den historischen Rollen ihre Stimme geben, nicht nach Hautfarben besetzen. Denn selbstverständlich hört man die Hautfarbe nicht in der Stimme.

Das Konzept bei der Besetzung des Stückes war, die postmigrantische Gesellschaft Deutschlands abzubilden: BPoC, weiße Menschen, Menschen mit und ohne eigene Migrationserfahrung. Auch in unseren anderen Hörspielproduktionen haben wir die Wichtigkeit erkannt, in der Besetzung die Pluralität unserer Gesellschaft abzubilden und die Rollen nicht nach Hautfarben/Zuschreibungen von Herkunftsstereotypen zu vergeben.

Für die historischen weißen Figuren, die dem Rassismus ihrer Zeit besonders stark Ausdruck verleihen, haben wir Schauspieler*innen engagiert, die eigene Rassismuserfahrungen gemacht haben, um diese mit in ihr Spiel einfließen lassen zu können und die Diskussion ins Studio zu tragen.

Die Figuren, die im heutigen Berlin verortet sind, sind ausnahmslos BPoC besetzt.

Welche Musik/O-Töne hört man am Anfang des Hörspiels?

Die Ansage des Hörspiels ist mit einer Collage aus Nina Simones "Strange Fruit" (Seltsame Früchte) und der Rede von Martin Luther King "I have a dream" (Ich habe einen Traum) unterlegt. 

Simone singt von Lynchmorden an Afroamerikaner*innen in den Südstaaten. 

King formuliert in seiner weltberühmten Rede aus dem Jahr 1963 Wünsche für sein Land: ein gleichberechtigtes Miteinander von Schwarzen und weißen US-Bürger*innen.  

War Margaret Mitchell eine Rassistin?

Margaret Mitchell ist ein Kind ihrer Zeit, sie schreibt mit der rassistischen Selbstverständlichkeit ihrer Epoche. Der Roman ist 1936 erschienen und entspricht in weiten Strecken nicht dem, wie wir heute über die Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs sprechen und schreiben. Ihre Figur Scarlett wendet sich zwar mitunter eindeutig gegen rassistische Aussagen – ist aber gleichzeitig ebenfalls rassistisch. Zudem lässt Mitchell die Ausbeutung, Unterdrückung, Folter der Versklavten unerwähnt und inszeniert stattdessen eine romantische Koexistenz zwischen weißen Herrschaften und Versklavten.

Diese Romantisierung und Verharmlosung lässt das Hörspiel nicht stehen, problematisiert die Rassismen und öffnet durch die zusätzliche Ebene einer afrodeutschen Familie im heutigen Berlin die Perspektive in unsere Gegenwart. Die Wurzeln des Rassismus, wie wir sie in "Vom Wind verweht - Die Prissy Edition" erleben, setzen sich bis heute fort und müssen gesehen, benannt und bekämpft werden.

Können wir etwas lernen aus der Geschichte?  

Ja. Wir lernen etwas über Wurzeln des Rassismus. Wir lernen etwas darüber, warum bis heute der Rassismus in den USA, bei uns und in der Welt nicht überwunden ist. Und wir lernen etwas über weibliche Emanzipation, über historisch gewachsene Rollenbilder und Geschlechterstereotype. Zudem ist der Roman ein deutlicher und flammender Antikriegsroman, der die Dummheit, die zu Krieg führt, und das Leid, das dieser mit sich bringt, eindrücklich schildert. 

Das Hörspiel wird als Audio-Blockbuster angekündigt. Was können wir uns darunter vorstellen?

Das Hörspiel ist eine sehr spannende und mitreißende Geschichte voller Figuren, mit denen das Mitfiebern leicht fällt. Und eine atemberaubende Liebesgeschichte voller Höhen und Tiefen ist es sowieso. Es ist hochkarätig besetzt, hat eine beeindruckende Komposition und vermag, uns durch die Geräusche in eine andere Zeit zu versetzen.

Muss es nicht heißen "Vom Winde verweht" - statt "Vom Wind verweht" (ohne e)?

Wir haben uns in der Wahl des Titels an der Neuübersetzung von Andreas Nohl und Liat Himmelheber orientiert. Hier wird das "e" hinter dem Wind weggelassen, um näher an das US-amerikanische Original heran zu kommen und Abstand von der Blumigkeit und Romantisierung der alten Übersetzung von 1937 zu nehmen.

Warum ist der Roman neu übersetzt worden?

Margaret Mitchell war Journalistin, ihr Schreibstil präzise und eher nüchtern. Andreas Nohl und Liat Himmelheber sind mit ihrer Übertragung ins Deutsche dem Stil der Autorin treuer geblieben, als es die zum Kitsch neigende Übersetzung von Martin Beheim-Schwarzbach aus dem Jahr 1937 vermochte. Auch handelt es sich bei der aktuellen um die erste vollständige Übertragung ins Deutsche, in der Fassung aus den 1930er Jahren fehlen einige Teile. 

Warum habt ihr einen Klassiker verändert?  

Ein Hörspiel zu produzieren, ist weder ein museales noch ein literaturwissenschaftliches Unterfangen. Die Freiheit, bei Literaturadaptionen Stränge zu verknappen, Figuren unerwähnt zu lassen oder zusammenzufassen, ist eine Selbstverständlichkeit. Es handelt sich ja nicht um eine Lesung, sondern um eine Dramatisierung eines Romans. Diese notwendigen Änderungen so vorzunehmen, dass ein jahrzehntealter Stoff ein heutiges Publikum bestmöglich anspricht, ist ebenfalls Usus. Im Falle einer Vorlage, die historisch belastetet ist, ermöglicht dieser Freiraum einen Zugriff auf das Material, der es erlaubt, die heute wichtigen, faszinierenden Teile des Romans beizubehalten und andere Teile, wie den inhärenten Rassismus, zu bearbeiten, auszustellen, zu kritisieren. In diesem Fall und im Lauf der Produktion sind wir noch einen Schritt weitergegangen. Wir haben eine zusätzliche Ebene einer in Berlin lebenden afrodeutschen Familie in das Hörspiel integriert, da uns so der künstlerische Umgang mit dem Stoff und dessen Rassismus zeitgemäß erschien.  

Schwarz
Der Begriff "Schwarz" wird hier bewusst großgeschrieben. Diese Schreibweise ist ausdrücklich nicht darauf ausgerichtet, eine Hautfarbe zu beschreiben. Sie bezeichnet Menschen, die anti-Schwarzem Rassismus ausgesetzt sind.

Weiß
Das Adjektiv wird hier bewusst kursiv gesetzt. Auch diese Schreibweise bezeichnet keine Hautfarbe, sondern die kulturellen, sozialen und politischen Privilegien von Menschen, die ohne Rassismuserfahrungen leben.

BPoC
Die Abkürzung für Black and People of Color ist ein international gebräuchlicher Begriff, mit dem Menschen, die Rassismus ausgesetzt sind, bezeichnet werden.