"Der Mythos wurde lebendig"

Stand: 05.06.2019, 11:32 Uhr

Die App "WDR AR 1933-1945" wächst: Ab 12. Juni nähert sie sich dem Mythos Anne Frank mit Berichten ihrer beiden besten Freundinnen. Stefanie Vollmann ist Autorin des Projekts. Im Interview erzählt sie vom Aufeinandertreffen mit den Protagonistinnen und über die Arbeit mit Augmented Reality.

Wie kam die Zusammenarbeit mit den beiden Freundinnen von Anne Frank zustande?

Wenn man fragt: Wer hat Anne Frank gekannt, melden sich unzählige ferne bekannte und Klassenkameraden. Uns war es aber sehr wichtig, dass es etwas Echtes ist. Deshalb haben wir im Tagebuch geschaut: Wer stand ihr besonders nah?

… und da kamen Sie auf Hannah Goslar und Jacqueline van Maarsen …

Anne nennt Hannah Goslar in ihrem Tagebuch Hanneli. Die beiden werden im Kindergarten beste Freundinnen und sie teilen ein Schicksal: Beide sind mit ihren jüdischen Familien aus Deutschland geflohen. In Amsterdam sind die Nachbarinnen und wohnen in einer Siedlung, in der viele jüdische Flüchtlinge leben. Später gehen sie zusammen aufs jüdische Lyzeum.

Dort lernt Anne auch Jacqueline van Maarsen kennen. Sie werden beste Freundinnen. Jacqueline sagt heute, die beiden hätten sich gesucht und gefunden. Als sie Anne einmal gefragt hat, warum die beiden eigentlich so gut befreundet seien, antwortet Anne: Weil wir uns so gut ergänzen.

Jacqueline ist die einzige Freundin, an die Anne in ihrem Tagebuch einen Abschiedsbrief geschrieben hat. Unterschrieben mit "Deine beste Freundin Anne"

An so viele Details kann Jacqueline sich erinnern?

Es ist erstaunlich. Jacqueline kann sich einfach an alles erinnern. Alle Details sind präsent. Sie weiß sehr viel über den Charakter von Anne Frank – Details, die man jetzt noch nicht kannte. Das hat sie für uns zu so einer besonderen Protagonistin gemacht. Durch sie ist der Mythos Anne Frank eine lebendige Figur geworden.

Und wie werden die Geschichten der beiden Freundinnen genau erzählt?

Die Geschichten werden aus der Sicht der Freundinnen erzählt. Und an den passenden Stellen zitieren wir aus Annes Tagebuch. Wir wussten: Eine Freundschaft ist eine Dynamik. Und dass Anne über die beiden in ihrem Tagebuch geschrieben hat, gibt uns die Möglichkeit, eine Art Dialog zu erschaffen.

Erscheint Anne Frank als Figur in der App?

Darüber haben wir ganz viel diskutiert. Darüber wie man sie darstellt, wie und in welcher Form sie erzählt. Wir wollten sie nicht mit einer Schauspielerin besetzen, weil man dabei nie 100% von ihr trifft. Außerdem wollten wir das Bild, das sich jeder von ihr macht, nicht beeinflussen. Also dachten wir: Ihr Geist lebt in ihrem Tagebuch weiter. Also brauchten wir eine literarisch metaphorische Ebene. Sie liest nun aus ihrem Tagebuch mit einer Off-Stimme, ihre animierte Handschrift zeigt die Tagebuchaufzeichnungen.

Und die beiden Freundinnen erzählen zusammen?

Nein, Jacqueline und Hannah sind zwei voneinander getrennte Kapitel.

Die Freundschaft zu Jacqueline behandelt die Zeit bis zu Annes Verschwinden. Bis die beiden Freundinnen nicht mehr wissen, wo sie ist. Hannahs Kapitel erzählt sozusagen "den Abschied". Sie erzählt vom Konzentrationslager Bergen-Belsen, von ihrer letzten Begegnung am Zaun.

Das klingt alles sehr komplex. Wie lange habt ihr insgesamt daran gearbeitet?

Von der Idee bis zur Veröffentlichung haben wir knapp zwei Jahre gebraucht. Im Februar und März 2018 haben wir die beiden Protagonistinnen getroffen, Hannah in Jerusalem und Jacqueline in Amsterdam.

Was war für Sie das Besondere an der Arbeit?

Ich habe das Tagebuch der Anne Frank schon in der Grundschule gelesen. Mich hat es sehr berührt, aber es war auch immer ein bisschen abstrakt. Anne schreibt darin über ihre beiden Freundinnen. Plötzlich schreibe ich mit ihren beiden Freundinnen, telefoniere mit den beiden. Und dann sitzen Hannah und Jacqueline vor mir. Alles bekam Emotionen, Stimme, Form und Gestalt. Ich habe Anne Frank vorher immer als Mythos wahrgenommen, durch die Begegnung mit den beiden Freundinnen wurde sie für mich zum Mädchen. Geschichte ist auf einmal greifbar. Und dieses Gefühl möchten wir mit Augmented Reality allen Menschen erfahrbar machen. 

Und braucht man jetzt für die neuen Geschichten auch eine neue App?

Damit haben wir uns tatsächlich lange beschäftigt. Wie kriegen wir den ganzen Content nutzerfreundlich – und vor allem in kleiner Datenmenge - aufs Smartphone? Die Lösung funktioniert jetzt wie eine Art Supermarktregal: Die History-App "WDR AR 1933-1945" ist eine Container-App. Alle Projekte sind in ihr enthalten, aber der User kann selber entscheiden, welche er sich in sein "Regal" stellen will. So müssen nicht mehrere Apps runtergeladen werden und trotzdem überschreitet die App nie eine Größe von 2GB. Für unsere Zielgruppe, nämlich Schulen, auch wichtig: Die App ist so konzipiert, dass sie ohne Wlan funktioniert. Alle Projekte und zusätzlichen Lehrmaterialien können heruntergeladen und offline genutzt werden.

Das klingt, als wären weitere Projekte geplant?!

Ja, Anfang nächsten Jahres geht es mit Zeitzeugenberichten von jungen Soldaten weiter.