Wenn mich jemand fragt, wo ich denn diesmal in Moskau wohne, sage ich: "dom breschnewa", "im Haus von Breschnew". Dann schaut mich mein Gegenüber erstaunt an: "Kutusowskij Prospekt 26?" Fast alle Moskauer kennen den riesigen braungelben Bau, ein imposantes verschachteltes Gebäude im Stil des russischen Klassizismus aus den 1930er Jahren. In diesem großen Karree haben die Generalsekretäre der KPdSU gewohnt, Tschernenko, Andropow und vor allen Dingen Leonid Breschnew, von 1964 bis 1982. Auch in diesen bitterkalten Wintertagen mit 22 Grad minus und Schneestürmen liegen vor der Gedenktafel jeden Tag frische Blumen.
Breschnews Wohnung ging raus zum Kutusowskij Prospekt, jener breiten Straße mit 14 Fahrstreifen, über die auch Wladimir Putin zum Kreml rauscht. Meine Wohnung hingegen liegt im rückwärtigen Teil des Breschnew-Komplexes, zum Fluss Moskwa hin. Und diese Seite hat mit dem Politbüro nun gar nichts mehr zu tun. Der Nachbar vis-à-vis, auf der anderen Seite des Flusses, ist nämlich "Moscow City". Jene gewaltigen Hochhäuser, die die Moskauer Skyline überragen. Wenn ich unten am Fluss jogge, dann im Schatten dieser neuen russischen Welt. Und wenn ich abends von meinem Schreibtisch aus dem Fenster schaue, sind sie da, 280 Meter hohe Türme, faszinierend, bunt angestrahlt. Ausdruck eines Kapitalismus, dem Russland inzwischen verfallen ist. Das Breschnew-Haus: Zur einen Seite noch Sowjetunion, zur anderen Seite das moderne Russland mit Bürohäusern und Woh-nungen in der 30. oder 35. Etage, für Normalsterbliche unbezahlbar, und im Erdgeschoss riesige Einkaufsmalls mit Cafés, Bars und teuren Geschäften mit bekannten Edelmarken – da unterscheidet sich Moskau wenig von irgendeiner anderen westlichen Großstadt.
Nein, stattdessen freue ich mich jeden Tag auf Nataschas gute Laune. Sie stehtmorgens bis abends in ihrem Kiosk um die Ecke und verkauft Obst, Gemüse,Getränke, Brot, Butter, also alles, was der Mensch so braucht. Von Sanktionen keine Spur, die Äpfel sind knackig, die Mandarinen süß. Das Obst kommt aus den zentralasiatischen Staaten wie Usbekistan oder Tadschikistan oder aus dem Kaukasus, aus Georgien oder Aserbaidschan. "Wohin geht die nächste Dienstreise?", fragt sie, "hoffentlich nicht nach Donezk, ostoroschno, Vorsicht!"

Und hin und wieder kann man mit jemandem, der auch bei Natascha einkauft, ein wenig schwatzen. Was nicht immer ganz einfach ist, denn oftmals sind die Moskauer eher zugeknöpft, besser gesagt, unfreundlich! Kein Gruß im Aufzug, mürrische Gesichter auf der Straße, Unhöflichkeit und Desinteresse. Aber auch nicht immer. Als ich kürzlich bei Schneegestöber auf der Auffahrt zur Stadtautobahn eine Reifenpanne hatte, hielt schon nach ein paar Minuten eine große schwarze Limousine. Ein junger Mann stieg aus, schaute sich den Reifen an und sagte: "Nada men-jaet." Und so half mir Nasim aus Tadschikistan im dichten Verkehr einen Reifen zu wechseln. Als ich ihn belohnen wollte, lehnt er strikt ab. Stattdessen: "Ich möchte Sie in ein tadschikisches Restaurant einladen, da lernen Sie unsere mittelasiatische Küche kennen."
Bewegte politische Jahre
Das ist das Unglaubliche in diesem Land: Man weiß nie, was passiert. Zum ersten Mal war ich 1986 in Moskau als junger Reporter und sofort fasziniert – alles war so spannend, so ungewöhnlich, dass ich gar nicht mehr weg wollte. Der Bazillus – den fast alle Russland-Korrespondenten kennen, ob Gerd Ruge, Fritz Pleitgen, Klaus Bednarz oder der leider viel zu früh verstorbene Dirk Saager –, er hatte auch mich erfasst. Wenn ich durch die Stadt fahre, kommen immer wieder Erinnerungen an meine erste Korrespondentenzeit in Moskau hoch. 1991, der Putsch der Reaktionäre gegen den Reformer Gorbatschow. Die Barrikaden der Protestbewegung vor dem Regierungssitz, dem Weißen Haus an der Moskwa. Mit Hilfe von Boris Jelzin scheiterte damals der Putsch der Apparatschiks. Ich konnte aus unserem WDR-Dienstwagen heraus per Autotelefon berichten, dass die Panzer, die bis hinauf zum Kreml in Stellung gegangen waren, abzogen. Nächstes Jahr ist das ein Vierteljahrhundert her.
So ist ein Spaziergang durch Moskau für mich immer voll von Erinnerungen. Doch wie jeder Tourist stehe ich immer noch staunend auf der Brücke über die Moskwa, fasziniert vom Blick auf den Kreml, auf die strahlend weiße, wieder aufgebaute Erlöser-Kathedrale mit ihren goldenen Kuppeln oder vor der Basiliuskathedrale mit ihren bunten Zwiebeltürmen am Roten Platz. Auf einer dieser Brücken wurde Boris Nemzow erschossen. Auch das ist Russland: brutal, menschenverachtend, ein Leben zählt nicht viel.
Was sich auch hin und wieder in der Architektur widerspiegelt. Aufmerksamkeit erheischend die sieben von Stalin in Auftrag gegebenen Hochhäuser im sogenannten "Zuckerbäckerstil". Das Individuum sollte klein gehalten werden, die Sowjetunion alles überstrahlen. Aber Moskau ist auch ein einmaliges architektonisches Durcheinander. Patrizier-Häuser, kleine Schlösser in den Nebenstraßen. Rokoko, Jugendstil – Gogol, Turgenjew oder Tschechow kommen gleich um die Ecke. Dazwischen dann – zum Beispiel auf dem Neuen Arbat – die ziemlich schmucklosen Bauten der Chruschtschow-Ära neben gigantischen Glaspalästen und neuen Einkaufszentren.
Moskau ist eine Weltstadt – und auch wieder ein Dorf, und oft der Willkür der Behörden ausgesetzt. So hatte mein Freund Achmed aus Aserbaidschan auf dem Markt hinter dem Kiewer Bahnhof seinen kleinen Laden. Achmed war mittendrin, alle kannten ihn, schätzen ihn. Wer kein Geld hat, der kann zu ihm kommen und sagen: "Ich brauche eine Jeans, eine paar Schuhe, eine Jacke!" Dann schreibt Achmed den Preis in eine dicke Kladde und sagt: "Allah segne dich, wenn du wieder Geld hast, komm vorbei!"

Immer war sein Geschäft voll, es gab Tee und Kekse, der halbe Kaukasus ging ein und aus. Achmed strahlte und half, wo er konnte, seine Cousins vertraten ihn, wenn er viermal am Tag in einen nahe gelegenen Gebetsraum ging. Aber anscheinend haben die Gebete nicht geholfen, den Markt so zu erhalten wie er war. Die Behörden beschlossen, alle Buden abzureißen, und so wurde auch Achmed in eine große Halle verpf lanzt. Nun steht er auf der zweiten Etage irgendwo hinten, sein Geschäft ist nicht mehr leicht zu finden.
Die Begrüßung fällt nicht weniger herzlich aus. Wer mich in Moskau besucht, der muss auch mit zu Achmed. Die WDR 5-Gewinner waren 2013 bei ihm, seitdem sind Bilder von ihm im Internet. Aber eigentlich ist das nicht so wichtig. "Wie geht es daheim, der 1. FC Bayern ist der beste Fußballverein, und wenn du mal einen Mercedes übrig hast, hier gibt es genügend Käufer." Wir reden über Politik, ein paar andere kommen hinzu, wir diskutieren den Sinn der EU-Sanktionen, und schon bin ich in Erklärungsnot. "Warum unterstützt Frau Merkel denn die Ukraine und nicht Russland?"
Diskussion unter Freunden
Im Laufe der letzten Monate habe ich bei solchen Gesprächen eine gewisse Flexibilität erlernt. Drei Viertel meiner Freunde – und das sind nicht wenige – sagen: Die Krim war immer russisch! Ich verweise dann vorsichtig darauf, dass das so nicht stimmt, aber es ist sinnlos. Auch eine Diskussion darüber, dass Putin die Separatisten militärisch unterstützt, sollte man besser nicht führen, denn die Antwort lautet: "Schließlich sitzen doch Faschisten in Kiew!" Einige Freunde und Bekannte sind aufgeklärter, so dass man hin und wieder den Eindruck hat, es ist noch nicht alles an politischer Einsicht verloren. Da sind zum Beispiel Georgi Totibadse und sein Bruder Konstantin, beide Maler aus Georgien. Ihr Atelier liegt auf dem Gelände der ehemaligen Schokoladenfabrik "Goldener Oktober" und es ist so etwas wie eine Oase in diesem verrückten Moskau. Georgi hat in der Moskauer Kunstszene einen Namen, und so sind in seinem Atelier auch immer Freunde. Ein Glas Wein, ein paar georgische Spezialitäten, Moskau ist eine Stadt, die viele Nationalitäten beherbergt. Da Georgien die Teilrepubliken Abchasien und Süd-Ossetien in bitteren Kriegen verloren hat und dort auch russische Truppen stehen, verurteilt Georgi das Vorgehen Putins in der Ostukraine. Aber mehr beschäftigt es ihn, dass es wirtschaftlich abwärts geht in Russland. Besonders leiden Künstler darunter.Moskau ist keine Stadt, die einem das Leben leicht macht.
Moskau ist ein Moloch – die Luft verschmutzt, die Leute im Stress, zu viele Autos, von ökologischem Bewusstsein keine Spur. Das Leitungswasser ist ungenießbar, so dass man zum Tee- oder Kaffeemachen immer Fünf-Liter-Behälter Trinkwasser heranschleppen muss. Hinzu kommt das Wetter: die Winter kalt, die Straßen voller Matsche, im Sommer 35 Grad und Smog. Aber dennoch: Wenn ich nach einem Sinfoniekonzert im Konservatorium auf die Straße trete und es schneit ein wenig, dann denke ich: Etwas Schöneres als Moskau kann es eigentlich nicht geben! Und etwas Spannenderes für einen Journalisten sowieso nicht!
Hermann Krause ( Jhg. 1953), gebürtiger Duisburger, absolviert bereits seine dritte "Amtszeit" in Moskau. Der ARD-Studioleiter Hörfunk arbeitet seit 1979 beim WDR, u. a. war der studierte Diplomökonom stellvertretender WDR 5-Zeitfunkchef (2008-2014).
Dieser Artikel erschien im April 2015 in der WDR PRINT.