Verstümmelte Lepra-Hände

Comeback des Contergan-Wirkstoffs Thalidomid

Vom Horrormittel zum Hoffnungsträger

Stand: 25.11.2006, 06:00 Uhr

1961 wurde Thalidomid vom Markt genommen - und kehrte kurze Zeit später zurück. Denn die Substanz ist wirksam, wo andere Medikamente nicht mehr helfen: bei Lepra, Aids und Krebs. Aber die Risiken bleiben.

Von Stefanie Hallberg

Barbara Simon leidet unter einem multiplen Myelom. Der nicht heilbare Blutkrebs wurde bei ihr vor einigen Jahren entdeckt. Da zerfraß er bereits ihre Knochen. Doch die Erkrankung konnte durch eine intensive Chemotherapie zurückgedrängt werden. Im Uniklinikum Köln bekommt die 50-Jährige monatlich eine Infusion, um den Knochenabbau zu stoppen. Zusätzlich nimmt sie täglich Thalidomid, um möglichst lange ohne Rückfall zu bleiben. Bislang mit Erfolg. "Es gibt keine gesicherten Daten, dass es wirklich gelingt", sagt ihr Arzt Marcel Reiser. "Aber in ihrem speziellen Fall wir sehen keine Alternative."

Leben verlängern helfen

Schon kurz nachdem Contergan vom Markt genommen worden war, begann die zweite Karriere des Wirkstoffs Thalidomid. 1964 entdeckte ein israelischer Arzt zufällig, dass die Substanz gegen die Leprareaktion hilft. Inzwischen lässt Thalidomid viele unheilbar Kranke wieder hoffen. Der Wirkstoff wird unter anderem gegen Prostata- und Nierenkrebs sowie Tuberkulose erprobt. Er kann das Leben von Patienten mit multiplen Myelom und Aids um wertvolle Monate oder gar Jahre verlängern.

Allein in Deutschland laufen derzeit 16 Studien mit Thalidomid, zehn davon im Zusammenhang mit multiplem Myelom. Zugelassen ist der Wirkstoff in Deutschland und anderen EU-Staaten aber nicht. Er muss unter strengen Auflagen aus dem Ausland importiert werden. Reiser bekommt die Substanz für viele seiner Patienten im Rahmen von Studien zur Verfügung gestellt. Barbara Simon muss Thalidomid aber für teures Geld über ihren Apotheker beziehen, da sie es im Rahmen eines individuellen Heilversuchs einsetzt.

Verstopfung und Exantheme

Jener Mechanismus, der den Contergan-Kindern zum Verhängnis wurde, ist bei der Behandlung des multiplen Myeloms segensreich: "Thalidomid verhindert die Neubildung von Blutgefäßen", erklärt Reiser. "Die Tumorzellen werden quasi ausgetrocknet." Gleichzeitig wirkt die Substanz giftig auf die Tumorzellen und reguliert das Immunsystem. Aber es gibt auch Nebenwirkungen. Bei Barbara Simon sind sie gering: Die Zahl der weißen Blutkörperchen ist etwas zu niedrig, und am Anfang der Therapie war sie oft müde. Andere Patienten leiden unter starker Verstopfung oder Hautveränderungen, bei denen sich Blasen bilden oder sich die Haut ablöst. Hinzu können Symptome, wie die für Thalidomid typische Polyneuropathie kommen, ein Taubheitsgefühl in Finger- und Fußspitzen bis hin zu Lähmungen. "In solchen Fällen müssen wir die Dosis reduzieren oder Thalidomid sofort absetzen", sagt Reiser.

Strenge Sicherheitsanforderungen

Beim heutigen Einsatz von Thalidomid ist dessen tragische Geschichte aber nicht vergessen. "Wir wollen dafür sorgen, dass die Substanz sicher eingesetzt wird", erklärt Thomas Sudhop vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Es hat 2003 im Internet eine Bekanntmachung mit Sicherheitsanforderungen veröffentlicht. "Wir möchten eine zweite Generation Thalidomid Geschädigter vermeiden", sagt Sudhop. Unter anderem soll Thalidomid nicht an Frauen im gebärfähigen Alter abgegeben werden. Falls dies unumgänglich ist, müssen sie sich verpflichten, mit zwei verschiedenen Methoden gleichzeitig zu verhüten. Auf diese Bestimmungen weist Reiser seine Patienten hin. Er sieht grundsätzlich aber kein Problem, Thalidomid beim multiplem Myelom einzusetzen. "Die Krankheit tritt überwiegend bei älteren Menschen auf." Junge, gebährfähige Patientinnen kläre man immer über das Risiko einer Schwangerschaft auf.

Schreckliche Verwechslung

Contergan-Geschädigte beobachten die Renaissance des Thalidomid allerdings mit gemischten Gefühlen. "Das Mittel hat großen Schaden angerichtet", sagt Klaus Becker aus Hamburg. "Wo es angewendet wird, kann es jederzeit zu neuen Fällen kommen." Becker weiß, wovon er spricht. Er hat sich lange in Brasilien engagiert, wo Thalidomid zur Behandlung von Lepra eingesetzt wird. In dem Land mit vielen Analphabeten schluckten junge Frauen die Substanz, weil sie Thalidomid wegen der Bildsymbole auf der Verpackung fälschlicherweise für ein Verhütungs- oder Abtreibungsmittel hielten. Wieder andere nehmen es zur Behandlung der Leprareaktion und sind schlecht über die Risiken aufgeklärt.

480 anerkannte Thalidomid-Opfer in Brasilien

Die brasilianische Regierung hat inzwischen verboten, den Wirkstoff an Frauen im gebärfähigen Alter abzugeben. Aber viele Leprakranke besorgen ihn sich unter der Hand - aus Angst, von ihren Familien und Freunden verstoßen zu werden. In dem Land wurden und werden immer noch thalidomidgeschädigte Kinder geboren. 480 Opfer habe der südamerikanische Staat offiziell anerkannt, erklärt Flavio Scavasin von der Brasilianischen Vereinigung Brasilianische Vereinigung der Menschen mit Thalidomid-Syndrom (ABPST). Aber man schätze, dass ihre Zahl viel höher sei. Becker sieht nur einen Ausweg, um künftig Schädigungen zu vermeiden: "Wir müssen die Forschung vorantreiben und Alternativen zu Thalidomid hervorbringen. Dann kann das Mittel endlich vom Markt verschwinden."