Geburtstag Marcel Reich-Ranicki (Literaturkritiker)

Stichtag

2. Juni 1920 - Marcel Reich-Ranicki wird geboren

Ein Literaturkritiker muss Mut besitzen, davon ist Marcel Reich-Ranicki überzeugt. Zum Mut gehört es, sich zwischen Ja und Nein klar zu entscheiden. "Wer ja oder nein sagt, der riskiert immer den großen Irrtum“, wird er einmal sagen. "Man erkennt die bedeutenden Kritiker immer an den Irrtümern. Die schlechten Kritiker irren sich nie, denn die sagen nur Jein, immer nur ein halber Irrtum."

Wenn es nach diesem Maßstab geht, dann ist Reich-Ranicki ein guter Kritiker. Denn er hat sich oft geirrt. Beim Roman "Die Blechtrommel" (1959) von Günter Grass zum Beispiel, den er zunächst für gänzlich misslungen hält – und für das Werk eines langweiligen und unbegabten Autors. Aber er hat auch den Mut, seine Irrtümer zuzugeben. Als er 2002 einen Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke herausgibt, ist "Die Blechtrommel" mit dabei.

Literatur als Anker

Geboren wird Reich-Ranicki am 2. Juni 1920 in der polnischen Kleinstadt Włocławek an der Weichsel. Sein Vater ist ein wenig geschäftstüchtiger jüdischer Fabrikbesitzer, die Mutter sehnt sich nach Berlin. Schon vor dem Besuch der deutschen Grundschule lernt er von seinem Kindermädchen lesen. 1929 siedelt die Familie nach Berlin über, wo sich Reich-Ranicki mit seinem polnischen Akzent und seiner schäbigen Kleidung als Außenseiter fühlt – ein Gefühl, dass sich nach der Machtergreifung Adolf Hitlers 1933 noch verstärkt. Schon damals ist die Literatur ein wichtiger Anker.

Obwohl Reich-Ranicki der beste Deutschschüler seiner Klasse ist, darf er als Jude nach seinem Abitur 1938 nicht studieren. Im selben Jahr wird er nach Polen ausgewiesen, wo er die polnische Sprache neu erlernen muss. 1940 schickt ihn die Mutter in die Wohnung eines jüdischen Nachbarn, der sich aus Verzweiflung das Leben genommen hat. Hier lernt er seine spätere Frau Teofila kennen, die er Tosia nennt. "Ich kam in diese Wohnung und sah das Mädchen, das 19 Jahre alt war und gerade den Vater von dem Gürtel, an dem er sich erhängt hatte, abgeschnitten hatte", schreibt er in seinen Memoiren. Kümmere dich um das Mädchen, habe seine Mutter gesagt. "Und ich kümmere mich um sie bis heute."

Dem KZ entronnen

Im Herbst 1940 muss Reich-Ranicki mit Tosia ins Warschauer Ghetto. Als die Deportationen nach Treblinka beginnen, heiraten beide, da Reich-Ranicki, der als Übersetzer gebraucht wird, hofft, seine große Liebe so retten zu können. Seine Eltern werden deportiert, das Paar kann fliehen und kommt bei einem arbeitslosen und launischen polnischen Setzer unter, dem Reich-Ranicki literarische Werke nacherzählen muss, um Essen zu bekommen - bis im September 1944 ein russischer Soldat an die Tür klopft. In Berlin wird er zunächst beim polnischen Ministerium als Übersetzer eingestellt, später arbeitet er als Konsul in London.

1950 beginnt Reich-Ranicki als Lektor und Literaturkritiker zu arbeiten. Acht Jahre später geht er mit seiner Frau und seinem Sohn nach Deutschland. Dort macht er sich schnell als festangestellter Literaturkritiker der Wochenzeitung "Die Zeit" einen Namen. 1973 wechselt er als Leiter des Feuilletons zur Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Hier avanciert er endgültig zum ebenso geachteten wie gefürchteten "Literaturpapst", dem der Ruf vorauseilt, Schriftstellerkarrieren begründen und vernichten zu können. Nebenbei publiziert er Bücher über Bertolt Brecht, Heinrich Heine und Thomas Mann.

"Das literarische Quartett"

1988 startet Reich-Ranicki mit der ARD-Sendung "Das Literarische Quartett" eine neue Karriere. Gemeinsam mit Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler und einem Gastkritiker lobt und verreißt er Bücher. Auf 77 Folgen bringt es die Sendung, mit hervorragenden Einschaltquoten trotz später Sendezeit. Verlage kleben Aufkleber auf ihre Bücher, wenn diese im "Literarischen Quartett" besprochen werden; in dem Fall dekorieren auch Buchhandlungen ihre Schaufenster entsprechend.

1999 schreibt Reich-Ranicki mit seiner Autobiographie "Mein Leben" selbst einen Bestseller. 2008 sorgt er für Furore, als er vor laufender Kamera den Deutschen Fernsehpreis ablehnt. Reich-Ranicki stirbt 2013 in Frankfurt am Main.

Stand: 02.06.2015

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