Ann Radcliffe; zeitgenössischer Stich

Stichtag

9. Juli 1764 - Geburtstag von Ann Radcliffe

Aus Langeweile beginnt Ann Radcliffe zu schreiben. Mit 23 Jahren hatte sie den Juristen William Radcliffe geheiratet. Arbeiten darf sie als Frau nicht. Die Damen lernten Französisch oder beschäftigten sich mit Musik. Selbst Handarbeiten werden, wie der Rest der Hausarbeit, von den Bediensteten erledigt. Weil Kinder ausbleiben, greift Ann Radcliffe zur Feder und schreibt Schauerromane, Gothic Novels. Das Genre ist am Ende des 18. Jahrhunderts beim Publikum besonders beliebt. Die Leser suchen Ablenkung von der Wirklichkeit, die geprägt ist durch die gesellschaftlichen Umwälzungen der Industrialisierung.

"Die typischen Kennzeichen des Gothic Novels, des Gotischen Romans, sind: ein Verbrechen, das geheimnisvoll ist, und verfallene Schlösser. Mondschein ist wichtig, Friedhöfe kommen darin vor und unterirdische Gänge", sagt Professor Jürgen Klein, Anglist und Experte für englische Schauerromane. Der erste Gothic Novel erscheint 1764, "Das Schloss von Otranto" von Horace Walpole. Es ist dasselbe Jahr, in dem am 9. Juli jene Frau zur Welt kommt, die das Genre perfektionieren wird: Ann Radcliffe.

Kläglich aussehende Menschen in Köln

"Sie hat diese Romane auf einem hohen Niveau psychologisiert: Bei Radcliffe korrespondieren die Reaktionen der Menschen mit der Landschaft. Das hat fast niemand so gut gekonnt wie sie", erklärt Klein. Ihre Romane sind durchzogen von einer permanenten, diffusen Stimmung der Angst. Sie leistet damit literarische Pionierarbeit, denn ohne Vorbilder wissen die Schriftsteller noch nicht, wie sie einen Gruseleffekt erreichen können.

In den 1790er-Jahren wird Ann Radcliffe zur ersten Bestseller-Autorin der Literaturgeschichte. Für "The Mysteries of Udolpho" und "The Italian" bekommt sie je 500 und 800 Pfund Sterling. Im damaligen Literaturbetrieb, der zudem klar von Männern dominiert wird, sind das zuvor unerreichte Honorare. Von dem Geld reist Radcliffe 1794 nach Holland und Deutschland. Sogar ihre Reiseaufzeichnungen lesen sich wie ein Schauerroman. "Die finsteren Häuser, erbärmlichen Gossen und kläglich aussehenden Menschen in Köln erinnerten uns sofort an die Schrecken von Neuss. Eine enge Straße folgte der anderen. Die Häuser: ekelerregend mit ihren dreckigen Fenstern und Türen in dem massiven Mauerwerk", schreibt sie.

Ihr Privatleben bleibt abgeschottet

1797, mit 33 Jahren und auf der Höhe ihres Erfolgs, hört Ann Radcliffe plötzlich auf zu schreiben und zieht sich völlig aus der Öffentlichkeit zurück. Die Gerüchteküche brodelt. Man erzählt sich, sie sei wahnsinnig geworden. "Solange ich mich mit ihr befasst habe, etwas Persönliches habe ich nie gefunden. Sie muss eine Furcht gehabt haben, von sich etwas an die Öffentlichkeit zu geben. Das Privatleben war abgeschottet. Darüber wissen wir nichts", sagt der Anglist Jürgen Klein.

Die letzten Jahrzehnte ihres Lebens verbringt Ann Radcliffe zurückgezogen mit ihrem Mann und den geliebten Hunden in London. 1823 stirbt sie im Alter von 58 Jahren an einer Lungenentzündung. Was sie zurücklässt, sind ihre Romane – die viele weitere Generationen von Grusel-Schriftstellern beeinflussen.

Stand: 09.07.2014

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