Stichtag

10. Juni 1969 - Sexualkunde-Atlas wird vorgestellt

Bienchen und Blümchen waren gestern. Mit derlei jugendfreien Erklärungen zur Fortpflanzung will sich die Jugend in den späten 1960er-Jahren nicht mehr abspeisen lassen. Auch in Deutschland demonstrieren die Studenten nicht nur gegen den Vietnamkrieg, sondern auch für die freie Liebe und für Homosexuellenrechte. Die Erfindung der Anti-Baby-Pille hat hierfür den Weg geebnet – auch wenn sie zunächst nur für verheiratete Frauen verschrieben wird.

Der Staat gerät unter Zugzwang. Er muss den Forderungen der Jugend adäquat begegnen, um seine konservativen Werte von Ehe und Familie zu schützen. Eine Möglichkeit ist der Aufklärungsstreifen "Helga – Vom Werden des menschlichen Lebens", der 1967 auf Initiative der Gesundheitsministerin Käte Strobel (SPD) gedreht wird und den Weg der Heldin zum Mutterglück beschreibt. Eine andere Möglichkeit ist Strobels "Sexualkunde-Atlas" für den Biologieunterricht.

Zeugung, Schwangerschaft, Geburt

Wie zu erwarten, ist der Weg des "Sexualkunde-Atlas" in die Schulen steinig. Er beginnt, als die Kultusministerkonferenz der Länder im Oktober 1968 ihre "Empfehlungen zur Sexualerziehung in den Schulen" verabschiedet. Sie soll den Schülern ein "verantwortliches geschlechtliches Verhalten" lehren. Notwendig ist die Sexualerziehung nach Ansicht der Politik, "um die individual- und sozialethischen Aufgaben der Erziehung zu erfüllen".

Auch wenn die Stoßrichtung der Empfehlungen von konservativen Idealen geprägt ist und erst 1974 flächendeckend in allen Bundesländern umgesetzt wird, so sind sie doch das erste Bekenntnis zu einer Sexualerziehung in der gesamten Bundesrepublik. Von nun an stehen Zeugung, Schwangerschaft und Geburt ebenso auf dem Unterrichtsprogramm wie sexuelle Probleme oder Masturbation.

Aufklärung als Politikum

Mit den "Empfehlungen zur Sexualerziehung in den Schulen" beginnt auch die Entwicklung von Lehr- und Lernmitteln, von denen der "Sexualkunde-Atlas" die prägnanteste ist. Am 10. Juni 1969 wird er auf einer Pressekonferenz von Gesundheitsministerin Strobel mit äußerster Vorsicht vorgestellt. "Aber in welchen Klassen der Atlas verwendet wird, das entscheiden natürlich in erster Linie die Lehrer", versucht sie zu beruhigen. Und: "Sicher nehmen auch die Eltern darauf Einfluss."

Die Kritik am "Sexualkunde-Atlas" lässt nicht lange auf sich warten. Vor allem das blutige Foto einer Geburt und ein von Syphilis befallener Penis – das einzige Foto eines Geschlechtsteils im ansonsten illustrierten Buch – erregen die Gemüter. 1969 wird der "Sexualkunde-Atlas" im Bundestagswahlkampf für CDU, CSU und die katholische Kirche zum Politikum. Letztendlich kommt er nur in jenen Bundesländern im Unterricht zum Einsatz, in denen die SPD an der Regierung ist.

In den Buchläden entwickelt sich der "Sexualkunde-Atlas" allerdings zum Verkaufsschlager. Die ersten 100.000 Exemplare sind schnell vergriffen, auf der Bestsellerliste des "Spiegel" landet er auf Platz acht. Als 1974 die zweite Auflage auf den Markt kommt, ist der Ansturm allerdings vorbei.

Stand: 10.06.2014

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