Blondin trägt seinen Manager über den Niagara

Stichtag

28. Februar 1824 - Geburtstag des Hochseilakrobaten Charles Blondin

In einem riesigen brodelnden Bogen stürzt der Niagara-River zwischen den USA und Kanada in die Tiefe – eines der beeindruckendsten Naturwunder der Erde. "Als man die erste Anzeige las, Mr. Blondin wolle auf einem Seile den Niagara überschreiten", schreibt 1859 die Leipziger "Illustrirte Zeitung", "hielt man die Sache für einen kolossalen Humbug". Auch im fernen Deutschland verfolgen die Menschen jede Nachricht über den offenbar selbstmörderischen Plan des Charles Blondin.

Als das Seil gespannt war, so die "Illustrirte" weiter, "musste man doch allgemach an den Ernst des Vorhabens glauben." Das Unglaubliche geschieht am 30. Juni 1859: Zehntausende Zuschauer halten die Luft an, als Blondin auf amerikanischer Seite die Balancierstange ergreift. Ungesichert, aber gelassen spaziert er über dem schäumenden Abgrund hinüber nach Kanada. Das Kunststück macht ihn schlagartig zum berühmtesten Popstar seiner Zeit.

"Der Niagara macht Lärm. Darin liegt alles"

Als Jean-Francois Gravelet kommt der Akrobat am 28. Februar 1824 im französischen Saint Omer zur Welt. Mit fünf Jahren sieht er im Zirkus einen Seiltänzer und ist hingerissen. Seine Eltern geben ihn in eine Gymnastikschule; dort gilt er als Wunderkind auf dem Seil und tritt mit acht schon vor dem König von Sardinien auf. Kurz darauf sterben seine Eltern. Der kleine Gravelet schlägt sich allein durch und landet bei der berühmten Zirkusfamilie Ravel. Unter dem Künstlernamen Blondin, der Blonde, tourt er mit den Ravels durch die Vereinigten Staaten.

1858 gastiert die Truppe in der Nähe der Niagarafälle. Bei einem Ausflug zu dem tosenden Naturschauspiel erkennt Blondin als gewiefter Showman sofort: Hier ist die Chance zur ganz großen Karriere. Sein Plan, die Fälle selbst zu überqueren, wird aus Sicherheitsgründen abgelehnt. So lässt er in direkter Nähe ein 300 Meter langes Hanfseil 50 Meter hoch über den Niagara River spannen. "Die andern Akrobaten haben über Marktplätze equilibriert", erzählt Blondin später, "ich bin über den Niagara gegangen. Das ist zwar um keinen Deut schwieriger, aber der Marktplatz ist stilles Land – und der Niagara macht Lärm. Darin liegt alles."

Ein Fläschchen Wein auf dem Hochseil

Zwanzig Minuten dauert Blondins erste Überquerung. Sie gelingt, obwohl Zuschauer, die auf seinen Absturz gewettet hatten, an den Spannseilen zerren. Der Artist wiederholt sein Kunststück monatelang. Mal schiebt er eine Schubkarre, macht Kopfstand oder balanciert mit verbundenen Augen. Einmal lässt Blondin eine Schnur auf ein Boot hinab und angelt eine Flasche Wein. "Er zog sie herauf und trank auf sein eigenes Wohlsein", vermeldet staunend die Leipziger "Illustrirte". Im Sommer 1860 trägt der Franzose sogar seinen Manager huckepack über den Niagara. Ausgerechnet da reißt ein Haltetau.

Nur mit größter Not kann Blondin seinen mutigen Passagier heil ans andere Ufer bringen. Der "Große Blondin" ist nun der bestbezahlte Artist seiner Zeit. Er reist um die Welt und präsentiert eine spektakuläre Attraktion nach der anderen. Im Londoner Crystal-Palace brät er sich ein Spiegelei auf dem Hochseil. In Neuseeland balanciert er auf einem 130-Meter-Tau zwischen den Schornsteinen eines Ozeandampfers. Der größte Seiltänzer des 19. Jahrhunderts überlebt jedes Wagnis. Charles Blondin stirbt 1897, kurz vor seinem 73. Geburtstag, im Bett an Diabetes.

Stand: 28.02.2014

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