Salatgurke nach EU-Norm, kaum gekrümmt

Stichtag

15. Juni 1988 - EU-Norm für Gurken wird veröffentlicht

Prall, gleichmäßig grün und fast gerade gewachsen müssen Salatgurken bei Landwirt Christoph Nagelschmitz in Wesseling sein. Exemplare, die dem Schönheitsideal nicht entsprechen, werden früh abgeschnitten, sonst entziehen sie der Staude die Kraft für die geraden Früchte. "Die müssen runter, am besten klein. Je kleiner, desto besser", erklärt er.

Wie Nagelschmitz ziehen die meisten Agrarerzeuger seit 25 Jahren gegen krumme Dinger vom Stamme "cucumis sativus" zu Felde. Verantwortlich dafür ist die Verordnung 1677/88, die am 15. Juni 1988 von der Europäischen Gemeinschaft veröffentlicht wurde. Danach dürfen Gurken der Handelsklasse "Extra" auf 10 Zentimetern Länge höchstens 10 Millimeter gekrümmt sein.

Wachsende Kritik an Brüsseler Regelungswut

Deutsche Kabarettisten lieben die Verordnung als realsatirische Steilvorlage, um über den Bürokratiewahn der Brüsseler "Gurkentruppe" zu lästern. Ironischerweise ist die Gurkenverordnung eine echt deutsche Erfindung, wie der EU-Abgeordnete Markus Färber (CSU) erklärt: "Das Handelsklassenrecht sah eine genormte Gurke vor, damit immer gleich viele in einen Karton passen, der im Regal und im Lkw immer gleich viel Platz einnimmt." Da der damalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors laut Färber "überzeugt war, der Binnenmarkt funktioniere nur, wenn alles exakt geregelt ist", fand der Handel schnell Gehör, um deutsches Recht in EU-Recht umzusetzen.

Fortan werden krumme Gurken im Handel billig verramscht oder landen, trotz vermutlich gleich guten Geschmacks, sofort auf dem Kompost. Mit der fortschreitenden Erweiterung der EU lassen sich detailverliebte Eurokraten immer peniblere Vorschriften für alle möglichen Lebensbereiche einfallen und provozieren so in der Bevölkerung zunehmend Kritik am Brüsseler Ordnungswahn. Die Dänin Mariann Fischer Boel, von 2004 bis 2010 EU-Agrarkommissarin, nutzt den öffentlichen Druck und macht gegen den Vorschriften-Dschungel mobil – vor allem gegen das Bürokratiesymbol "Gurkenverordnung".

EU-Kommission kassiert Qualitätsnormen

Bei Agrar- und Handelsverbänden sowie im Berliner Landwirtschaftsministerium stößt Fischer Boel auf heftigen Widerstand. Erst nach Intervention des zuständigen Bundesministers Horst Seehofer (CSU) unterstützen die deutschen EU-Abgeordneten die Pläne der Kommissarin. Obwohl 16 Mitgliedsländer auf der Verordnung beharren, kann Fischer Boel sich durchsetzen. 2009 streicht die Kommission etliche Qualitätsnormen – nicht nur für Gurken, sondern auch für andere Obst- und Gemüsesorten wie Aprikosen, Artischocken, Karotten und Kirschen.

Für Landwirte wie Christoph Nagelschmitz ändert sich allerdings so gut wie nichts. Denn nach Abschaffung der Gurken-Verordnung einigen sich die großen Handels- und Agrarverbände auch ohne Brüssel auf dieselben Normen wie zuvor. Gerade Gurken sind nun mal praktischer zu verpacken, und die Verbraucher lassen krumme Früchte trotz günstigerer Preise weiter eher unbeachtet. Derweil bemüht sich die EU, beraten durch den früheren bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber, weiter, die Regelungswut ihrer Beamten zu bremsen – mit zweifelhaftem Erfolg. So wird Ende 2012 zwar eine unsinnige Normierung von Traktorsitzen abgeschafft. Dafür will man in Brüssel nun wiederbefüllbare Olivenölkännchen auf europäischen Restauranttischen verbieten.

Stand: 15.06.2013

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