Der "Schnelle Brüter" in Kalkar (Aufnahme von 1992)

Stichtag

24. April 1973 - Bau des "Schnellen Brüters" in Kalkar beginnt

Das Projekt heißt "SNR-300" und soll die bundesdeutsche Energiewirtschaft unabhängig von ausländischen Öl- und Gaslieferungen machen. Der sogenannte Schnelle Brüter könne "gewisse Dinge" leisten, wozu ein normales Atomkraftwerk nicht in der Lage sei, sagt Atomphysiker Willy Mahrt. Er gehört zu den Verantwortlichen, die im Kernforschungszentrum Karlsruhe ab 1960 die Brüter-Technologie entwickeln und neun Jahre später entsprechende Baupläne präsentieren. "Aufgrund der Ressourcen-Situation wird der Schnelle Brüter langfristig benötigt werden." Nur er könne "Strom über viele tausend Jahre" liefern, so Mahrt.

Die Idee der Wissenschaftler: Der Brüter soll seinen eigenen Brennstoff herstellen. Durch den Beschuss von Uran mit schnellen Neutronen soll das Kraftwerk bis zu 30 Prozent mehr Plutonium-239 "erbrüten", als es selbst verbraucht. Der Haken: Als Kühlmittel wird geschmolzenes Natrium benötigt, das brennbar und bei Kontakt mit Wasser hochexplosiv ist. Es kann bei diesem Reaktortyp innerhalb kürzester Zeit zur Kernschmelze kommen. Zudem ist Plutonium hochgiftig. Das macht die Bauplatz-Suche Anfang der 1970er Jahre schwierig.

Katholische Kirche verkauft Baugrund

Zunächst soll der "Schnelle Brüter" in der Gegend von Weisweiler bei Aachen gebaut werden. Doch dann entscheidet sich die damalige sozial-liberale NRW-Landesregierung für Kalkar, wo die Bevölkerungsdichte kleiner ist. Das landwirtschaftlich geprägte Gelände befindet sich im Ortsteil Hönnepel, direkt am Niederrhein, in der Nähe der niederländischen Grenze. Dieser Standort sei nicht umsonst gewählt worden, sagt Willibald Kunisch, Grünen-Stadtrat in Kalkar, rückblickend: "Weil es die Gegend war, wo man mit dem geringsten Widerstand rechnete, wo fast 80 Prozent die CDU wählten, wo alle katholisch waren." Die Stadt selbst sei an der Entscheidung nicht beteiligt worden, erinnert sich Kalkars früherer CDU-Bürgermeister Karl-Ludwig van Dornick. Die meisten Bewohner befürworten zunächst den Brüter-Bau. "Es wurde sehr viel versprochen, es gab Arbeitsplätze", so van Dornick.

Doch schon bald regt sich Widerstand: Im Juni 1971 gründen sechs Leute die "Interessengemeinschaft gegen radioaktive Verseuchung". Mit dabei ist der katholische Bauer Josef Maas aus Hönnepel, der später zu einer Führungsfigur im Kampf gegen den Brüter wird. Das Land, auf dem das Kraftwerk gebaut werden soll, gehört teilweise der katholischen Kirche. Damit die Bauarbeiten beginnen können, muss der Kirchenvorstand dem Verkauf zustimmen - was er auch tut. Das ist für Maas ein Unding. Er kritisiert, "dass es dem Generalvikariat nur um Geld ging und nicht in erster Linie darum, sich für Gesundheit und Leben der Menschen einzusetzen." Die niederrheinische Fluss- und Deichlandschaft wird neu vermessen und eingezäunt. Offizieller Baubeginn ist am 24. April 1973, ein Osterdienstag.

NRW-SPD vollzieht späte Wende

Aus lokalen Protesten wird grenzüberschreitender Widerstand: Zunächst sind einige Dutzend Holländer mit ihren Rädern vor Ort, die sich über den sogenannten Kalkar-Pfennig ärgern, den sie wegen der niederländischen Beteiligung am Bau des "Schnellen Brüters" zahlen müssen. Später demonstrieren 20.000 Holländer, wie sich der Brüter-Gegner und ehemalige Lehrer Bruno Schmitz erinnert, "und auf der anderen Seite gab's nur eine Handvoll Deutsche." Nach diesem Ereignis kooperieren regionale Gruppen über Landesgrenzen hinweg. Bundesweit vernetzen sich Atomkraftgegner aus Wyhl, Grohnde und Brokdorf. Die Bürgerinitiative "Stop Kalkar" entsteht. Im September 1977 beteiligen sich rund 50.000 Menschen an der bis dahin größten Anti-AKW-Demo in der Bundesrepublik.

In den folgenden 14 Jahren schenken sich Anhänger wie Gegner nichts. Immer wieder kommt es zu Verzögerungen und Baustopps - wegen erhöhter Sicherheitsauflagen und fehlender Teilerrichtungsgenehmigungen. Zwar wird der Brüter 1985 fertiggestellt, doch nun verweigert die sozialdemokratische NRW-Landesregierung unter Ministerpräsident Johannes Rau die Betriebsgenehmigung. Das "Höllenfeuer" dürfe nicht entfacht werden, sagt SPD-Landtagsfraktionschef Friedhelm Farthmann - nachdem er zuvor in seiner Zeit als Minister auch für die Atomenergie zuständig war und mehrere Genehmigungen für den "Schnellen Brüter" erteilt hatte. Nach der Atom-Katastrophe in Tschernobyl im April 1986 dauert es noch fünf Jahre, bis das Projekt "SNR-300" offiziell beendet wird: Bundesforschungsminister Heinz Riesenhuber (CDU) verkündet 1991 das Aus für den "Schnellen Brüter" - zu unsicher, zu teuer. Statt der ursprünglich kalkulierten 940 Millionen D-Mark kostet er mindestens sieben Milliarden D-Mark. Vier Jahre später kauft ein niederländischer Unternehmer das Kraftwerk, das nie ans Netz gegangen ist, und wandelt es in einen Freizeitpark um.

Stand: 24.04.2013

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