Stichtag

8. April 1928 - Trennung von Religion und Staat in der Türkei

"Das Kalifat ist ein Märchen der Vergangenheit, das in unserer Zeit keinen Platz mehr hat. Religion und Staat müssen getrennt werden", verkündet Mustafa Kemal genannt Atatürk 1923 mit der Gründung der Republik Türkei. Er bricht mit der islamischen Vergangenheit des Osmanischen Reiches: Die neue Türkei soll ein moderner Nationalstaat werden, auf dem "Stand der entwickelten und der Wohlstandsländer", wie Atatürk sagt. Die türkische Nationalversammlung beschließt den Laizismus, die Trennung von Religion und Staat, am 8. April 1928. Atatürk orientiert sich dabei an Frankreich, das 1905 als erstes Land der Welt die Laïcité in der Verfassung verankert hatte.

Mustafa Kemal Atatürk, Begründer der modernen Republik Türkei

Atatürk bricht mit der islamistischen Vergangenheit der Türkei

Die Pilgerfahrt nach Mekka wird verboten

Atatürks Reformen verändern den Alltag der gläubigen Muslime für immer. "Unsere Inspiration beziehen wir nicht aus dem Himmel ... sondern aus dem Leben", sagt er. Abgeschafft werden das religiöse Rechtssystem der Scharia, religiöse Schulen, Orden und Bruderschaften und der Religionsunterricht an Schulen. Der islamische Kalender wird durch den europäischen ersetzt, die arabische Schrift durch das lateinische Alphabet. Die Pilgerfahrt nach Mekka ist ebenso verboten wie der arabische Gebetsruf - er darf nur noch auf Türkisch erfolgen.

Vorbeter in den Moscheen sind Beamte des türkischen Staates

"Alles, was mit dem Islam zu tun hatte, sollte aus der Öffentlichkeit und aus dem Kulturgut der Bevölkerung verbannt werden", erklärt Dr. Gül Şen, Islamwissenschaftlerin an der Universität Bonn. Einige Verbote werden in den nächsten Jahrzehnten zurückgenommen. Der Gebetsruf erschallt wieder auf Arabisch. Die Pilgerfahrt ist erlaubt und auch der Religionsunterricht an den Schulen wird wieder eingeführt. Doch die strikte Trennung von Staat und Religion bleibt weitgehend erhalten – und geht sogar über die ursprüngliche Idee des Laizismus hinaus. Denn die Verfassung sagt: "Die religiöse und ethische Erziehung und der Religionsunterricht stehen unter Kontrolle und Aufsicht des Staates." Die Imame, die Vorbeter in den Moscheen, sind also Beamte des türkischen Staates. "Der größte religiöse Akteur in der Türkei ist nicht eine Partei, Bruderschaft oder religiöse Gruppe, sondern der Staat selbst!", erklärt die Islamwissenschaftlerin Gül Şen.

Staat gibt Freitagspredigten für Moscheen heraus

Schon mit der Abschaffung des Kalifats ruft Mustafa Kemal 1924 das "Präsidium für religiöse Angelegenheiten" ins Leben, Diyanet genannt. Es untersteht direkt dem Ministerpräsidenten und ist zuständig für Fragen des Glaubens, die Verwaltung der Gebetsstätten und für die religiöse Aufklärung des Volkes. So werden zum Beispiel landesweit die Freitagspredigten für alle Moscheen vom Diyanet zentral herausgegeben. Das gilt bis heute auch für die deutschen Gemeinden des Diyanet, deren Tochterorganisation hier Ditib heißt.

Regelmäßig gibt es Kritik an dem Modell. "Das Amt vertritt eindeutig den sunnitischen Islam", sagt Gül Şen. Auch im wieder eingeführten Religionsunterricht an Schulen, einem Pflichtfach, wird nur den sunnitische Islam gelehrt. Religiöse Minderheiten in der Türkei, zum Beispiel die Aleviten, fühlen sich vom Diyanet bis heute nicht vertreten.

Stand: 08.04.2013

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