Montage mit Richterhammer und Jugendstrafrechtbuch

Stichtag

16. Februar 1923 - Reichstag erlässt erstes Jugendgerichtsgesetz

Sechs junge Männer zwischen 18 und 21 Jahren, der Polizei als Intensivtäter bekannt, essen zusammen zu Abend. Sie alle sind verurteilt, leben aber unter Aufsicht von Sozialarbeitern in Freiheit. Einmal pro Woche müssen sie zum "sozialen Training" antreten, zu einer gemeinsamen Mahlzeit mit Gruppengesprächen und Übungen. "Bei uns sollen sie Sozialverhalten lernen, sich an Regeln zu halten, sie zu akzeptieren und auch zu verstehen“, erklärt der Sozialpädagoge Manuel Roos.

Der nach Jugendstrafrecht verurteilte Carlo weiß zu schätzen, was ihm erspart bleibt: "Andere würden in den Knast wandern. Und anstatt in den Knast zu wandern, kommst du hierhin und zeigst deine bessere Seite." Heimzimmer statt Gefängniszelle, der Allgemeinheit dienende Sozialstunden statt ödem Einsitzen: dass jugendliche Täter zu Erziehungsmaßnahmen herangezogen werden und nicht zwangsläufig hinter Gitter müssen, verdanken sie dem Jugendgerichtsgesetz, das vor 90 Jahren in Kraft getreten ist.

Vorbeugung statt Vergeltung

Anfang des 20. Jahrhunderts landen selbst Zwölfjährige im Gefängnis. Meist sind es Kinder aus Armenvierteln, die sich mit Betteln, Mundraub und kleinen Gaunereien durchschlagen. "Die Richter hatten damals längst den Eindruck, dass ihre Antworten die falschen sind, auf soziale Not zu reagieren," sagt der Kölner Strafverteidiger Lutz Pieplow, Kenner der Justizhistorie. So heißt es bereits 1903 in einer Reichstagsdebatte: "Die geltende Gesetzgebung nötigt geradezu zur Strafverfolgung – auch wenn die Bestrafung wegen der Geringfügigkeit der Tat überflüssig ist … und nach der besonderen Lage der Sache geradezu als Ungerechtigkeit erscheint."

Angeführt vom Rechtsphilosophen und späteren Justizminister Gustav Radbruch, planen Reformer eine grundlegende Novellierung des gesamten Strafrechts: weg vom bislang herrschenden Vergeltungsanspruch der Gesellschaft, hin zu Vorbeugung und einer Besserung der Delinquenten. Doch eine Front von Hardlinern blockt alle Reformansätze unnachgiebig ab, warnt vor dem Anfang vom Ende der für alle Bürger gültigen Strafgesetze. Um die Grundidee "Erziehung statt Strafe" dennoch voranzubringen, geht Radbruch einen Kompromiss ein und konzentriert sich zunächst ganz auf die Misere jugendlicher Täter - mit Erfolg.

Zu "ordnungsgemäßer Lebensführung" anhalten

"Besser den Spatz auf der Hand als die Taube auf dem Dach", seufzt der Sozialdemokrat, als der Reichstag am 16. Februar 1923 das neue Jugendgerichtsgesetz (JGG) erlässt. Das von Radbruch maßgeblich gestaltete Werk erklärt Jugendliche unter 14 Jahren generell für strafunmündig. "Der Vollzug soll in besonderer Weise auf den Erziehungszweck der Strafe gerichtet sein und den Jugendlichen (auch durch Berufsausbildung), zu ordnungsgemäßer Lebensführung anhalten", heißt es in dem Gesetz. "Ordnung, Arbeit, Unterricht, Leibesübungen und sinnvolle Freizeitgestaltung sind Grundlagen dieser Erziehung."

Erstmals steht es im Ermessen des Richters, von Bestrafung abzusehen, wenn er Erziehungsmaßnahmen wie Sozialstunden in einem Krankenhaus, einer Suppenküche oder auf dem Friedhof für sinnvoller hält. Ist aber "wegen schädlicher Neigungen" eine Freiheitsstrafe unvermeidbar, kann diese nun auch zur Bewährung ausgesetzt werden. Außerdem sind die besonderen Lebens- und Familienverhältnisse eines Beschuldigten zu ermitteln und zu berücksichtigen.

Die meisten Paragrafen des Jugendgerichtsgesetzes haben bis heute Gültigkeit. Seit 1953 wird zudem bei Heranwachsenden zwischen 18 und 21 Jahren je nach persönlicher Reife entschieden, ob sie nach Jugend- oder Erwachsenenstrafrecht abgeurteilt werden.

Stand: 16.02.2013

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