Straßenszene im winterlichen Berlin der Nachkriegszeit 1947

Stichtag

30. Dezember 1947 - Kälte- und Hungerwinter in Deutschland

"Deutschland, Deutschland ohne alles. Ohne Butter, ohne Speck. Und das bisschen Marmelade frisst uns die Besatzung weg" - so dichtet der deutsche Volksmund zwei Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg das Deutschlandlied um. Die Versorgungslage ist schwierig. Am 30. Dezember 1947 zieht das "Westdeutsche Tagesblatt" eine bittere Bilanz: "Betriebsschließungen wegen Kohlemangel, Viehabschlachtungen aus Nahrungsmangel für Mensch und Tier, Überfälle auf Kohlezüge und latente Ernährungskrise, ... Demontage und Reparationen, dazu Kälte und Dürre - kurz: ein immer schärferer Kampf um das nackte Überleben, das war das Jahr 1947."

Bereits im Jahr zuvor ist die Situation in Deutschland prekär. Im Herbst 1946 fordern Experten eine tägliche Mindestration von rund 2.000 Kalorien pro Person. Doch nicht selten stehen nur 1.000, mancherorts sogar lediglich 800 Kalorien zur Verfügung. Die Ursachen des Mangels sind vielschichtig: Durch die hohe Zahl der Kriegstoten fehlen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft. Gleichzeitig suchen rund 10 Millionen Flüchtlinge und Vertriebe in den vier Besatzungszonen Zuflucht. In den zerbombten Städten gibt es aber nur wenig Wohnraum. Etwa 20 Millionen Menschen leben in Ruinen. Zudem funktioniert die Verteilung der wenigen vorhandenen Waren schlecht. Die Verkehrsverbindungen sind zu rund 40 Prozent zerstört.

Nahrung und Kohle "fringsen"

Im Winter 1946/1947 verschärft sich die Lage durch große Kälte. In der französischen und britischen Besatzungszone friert der Rhein auf einer Länge von 60 Kilometern ein. Die Elbe ist komplett vereist. Die Binnenschifffahrt kann weder Nahrung noch Kohle transportieren. Bei Temperaturen von bis zu minus 20 Grad werden im Ruhrgebiet die Schulen geschlossen, weil die Räume nicht beheizt werden können. Nach Schätzungen sterben in Deutschland mehrere hunderttausend Menschen an Kälte und Hunger. Vom "Weißen Tod" und "Schwarzen Hunger" ist allerdings ganz Europa bedroht. Am härtesten trifft es die Sowjetunion, wo nach Historikerschätzungen zwischen 1946 und 1948 rund zwei Millionen Menschen aufgrund der schlechten Bedingungen sterben.

An Silvester 1946 zeigt der Kölner Erzbischof Joseph Kardinal Frings Verständnis für Stehlen zum Eigenbedarf: "Wir leben in Zeiten, da in der Not auch der Einzelne das wird nehmen dürfen, was er zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gesundheit notwendig hat, wenn er es auf andere Weise durch seine Arbeit oder durch Bitten nicht erlangen kann." Das "Organisieren" von Nahrung und Kohle wird von nun an als "fringsen" bezeichnet.

80 Prozent der Bevölkerung unterernährt

Nach dem kalten Winter zum Jahresbeginn folgt 1947 ein heißer, trockener Sommer. Das Heu muss als Noternte eingebracht werden, die Getreide- und Kartoffelernten fallen dürftig aus. Schon zu Beginn des Herbstes sind die Scheunen leer. Das Vieh kann kaum gefüttert werden. In einer Denkschrift stellt die deutsche Ärzteschaft im Sommer 1947 fest, dass regional bis zu 80 Prozent der Bevölkerung unterernährt seien. Gesundheitliche Schäden werden diagnostiziert: Hungerödeme, Verdauungsstörungen, Leber- und Nierenschäden, Hautausschläge, Lungentuberkulose. Während des ganzen Jahres kommt es immer wieder zu Hungerdemonstrationen und Streiks.

Auch im Winter 1947 bleiben viele Lebensmittelmarken ungenutzt. Nach wie vor gibt es kaum Fett, Fleisch, Gemüse oder Obst. Gelindert wird die Not zwar durch Care-Pakete der Amerikaner. Erst im Sommer 1948 stabilisiert sich allerdings die Versorgung in Deutschland. Der Marshall-Plan und die Währungsreform bringen die Wende.

Stand: 30.12.2012

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