Pierre Bourdieu, französischer Soziologe (Aufnahme von 2000)

Stichtag

23. Januar 2002 - Pierre Bourdieu stirbt in Paris

Lehrer, Ärzte und Angestellte gehen in italienische Restaurants - Arbeiter lassen sich Curry-Wurst über den Tresen reichen. Die Wahl des Essens ist an die gesellschaftliche Schicht gebunden wie die Wahl von Häusern und Autos - und wer den Geschmacks-Code bricht, wird bestraft. Solche Zusammenhänge erforscht Pierre Bourdieu, der als einer der angesehensten französischen Soziologen gilt und durch sein linkes politisches Engagement zum Star wird.

In seinem wohl bekanntesten Buch "La distinction" ("Die feinen Unterschiede") von 1979 analysiert er, wie Gewohnheiten, Freizeitbeschäftigungen und Schönheitsideale dazu benutzt werden, sich jeweils von der niedrigeren Klasse abzugrenzen. In eine höhere Schicht aufzusteigen ist fast unmöglich: "Wenn man aus kleinen Verhältnissen und der Provinz kommt, hat man ein kulturelles Schamgefühl." Welche Stellung der Einzelne in der kapitalistischen Gesellschaft hat, wird nach Bourdieu durch vier Elemente bestimmt: Geld, Herkunft, Ruf und Kultur. Daraus entwickle jeder Mensch seine Persönlichkeit, den sogenannten Habitus.

Aufstieg aus bescheidenen Verhältnissen

Die westlichen Gesellschaften mögen also keine Aufsteiger - laut Bourdieu. Er selbst bildet allerdings eine Ausnahme von dieser Regel. Er stammt aus bescheidenen Verhältnissen: "Mein Vater war zunächst Bauer, dann wurde er Briefträger." Der am 1. August 1930 im südfranzösischen Denguin geborene Pierre kann das Schulsystem nutzen. Er besucht das Gymnasium und später Pariser Elite-Hochschulen, an denen er Philosophie studiert. Danach arbeitet Bourdieu für kurze Zeit als Lehrer, wählt dann aber eine akademische Laufbahn. Eine prägende Etappe ist ein Forschungsaufenthalt in Algerien von 1958 bis 1960, wo er Studien über das Berbervolk der Kabylen betreibt. Bourdieu wendet sich von der Philosophie hin zur Ethnologie und Soziologie.

Ab Mitte der 1960er Jahre beschäftigt sich Bourdieu mit Biografien von Eliten und Intellektuellen. Er analysiert zudem die Struktur von Herrschaftsverhalten und die damit verbundenen Handlungsmuster. Bourdieu, der 1981 Soziologie-Professor am Pariser Collège de France wird, mischt sich mit seinem Werk auch politisch ein: 1993 wird das Buch "La misère de monde" ("Das Elend der Welt") ein Bestseller. Darin versammelt er Interviews mit Menschen, die sonst nicht zu Wort kommen. Sie erzählen über ihren Alltag angesichts von Massenarbeitlosigkeit, Sozialabbau und der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich.

Mitbegründer von Attac

In Frankreich wird Bourdieu berühmt: "Er galt so ein bisschen als die intellektuelle Vorhut der sozialen Protestbewegungen", sagt Franz Schultheis, Soziologe und Mitarbeiter Bourdieus. "Attac entsteht in diesem Umfeld und er gehört mit zu den Gründungsmitgliedern." Schon bevor das globalisierungskritische Netzwerk 1998 gegründet wird, ist Bourdieu aktiv: 1993 initiiert er mit anderen Intellektuellen ein Manifest gegen den Rechtsextremismus, 1995 solidarisiert er sich mit Streikenden, die sich gegen das Reformprogramm der Alain-Juppé-Regierung wehren. Vor streikenden Eisenbahnern im Pariser "Gare de Lyon" kritisiert er eine "Staatsaristokratie", die aus dem öffentlichen Wohl eine Privatsache mache. Es gehe um die "Wiedereroberung der Demokratie gegen die Technokratie", deshalb müsse mit der "Sachverständigen-Tyrannei vom Typ Weltbank" Schluss gemacht werden.

Während seine Bücher und Reden teilweise schwer verständlich sind, kann Bourdieu in Interviews durchaus anschaulich formulieren: "Der Neoliberalismus ist wie Aids: Er greift das Abwehrsystem seiner Opfer an", sagt er 2001 in einem "Spiegel"-Gespräch. In einem Radiointerview, das in einem zweieinhalbstündigen Dokumentarfilm über Bourdieu von 2001 zu sehen ist, sagt er: "Soziologie ist ein Kampfsport." Ein Kampfsport, den man zur Verteidigung brauche und bei dem Fouls streng verboten seien. Pierre Bourdieu stirbt am 23. Januar 2002 in Paris an Krebs.

Stand: 23.01.2012

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