Mary Shelley, Lord Byron und Claire Clairmont im Film

Stichtag

1816 – Das "Jahr ohne Sommer"

Für Mary Godwin ist das Wetter am Genfer See im Sommer von 1816 ganz und gar grauenvoll. Vor einem Jahr ist die 18-jährige Engländerin mit dem Dichter Percy Shelley durchgebrannt, jetzt ist sie mit ihm und ihrer überdrehten Stiefschwester Claire ans Haus gefesselt. "Die Gewitter, die uns heimsuchen, sind so gewaltig und schrecklich, wie ich nie welche erlebt habe", hält sie fest. "Wir sehen, wie sie sich vom jenseitigen Ufer des Sees her nähern, wie die Blitze zwischen den Wolken spielen und in gezackten Mustern auf die Kieferngipfel des Jura einstechen."

Glücklicherweise hat der Dichter Lord Byron in der benachbarten Villa Diodati mit seinem Leibarzt John Polidori Quartier bezogen. Ihre Gesellschaft und die Schauergeschichten der Bibliothek machen das Klima erträglicher. "Das Wetter war von einer so anhaltenden Kälte und Nässe", schreibt Mary Godwin, "dass wir uns allabendlich um das im Kamin lodernde Holzfeuer scharten und uns an deutschen Gespenstergeschichten erfreuten".

Schuld ist Tambora

Nicht nur am Genfer See ist 1816 ein "Jahr ohne Sommer". Im Nordosten der USA sorgen Fröste zwischen Juni und August für Kälterekorde und Ernteausfälle. Mitteleuropa versinkt in den Regenfluten, die Flüsse überschwemmen die Landschaft. Nicht wenige Menschen halten die Düsternis und die sintflutartigen Regenfälle für eine Strafe Gottes: Das Ende der Welt, so mutmaßen Apokalyptiker, ist nahe.

Erst 1920 findet der amerikanische Klimatologe William Jackson heraus, dass das "Jahr ohne Sommer" in direkten Zusammenhang steht mit dem Ausbruch des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa in Indonesien. Bis zu 150 Kubikkilometer Asche schleudert er 1815 in die Luft. In die Stratosphäre gelangt, bilden die Aschewolken winzige Tröpfchen, die Sonnenlicht absorbieren. Die Folge ist der Katastrophensommer ein Jahr darauf.

Die Geburt von Frankenstein

Am Genfer See regt das Horror-Wetter die Dichtergesellschaft zum kreativen Schreiben an. Lord Byron verfasst ein Gedicht namens "Finsternis", sein Leibarzt entwirft eine Geschichte um einen auffallend blassen Adeligen, der zum Prototypen des modernen Vampirs gerät.

Mary Godwin, die Ende 1816 durch Heirat zu Mary Shelley wird, sieht in einer Vision "das grässliche Trugbild eines Menschen ausgestreckt liegen, und dann, auf die Arbeit irgendeiner mächtigen Maschine hin, gab es plötzlich Lebenszeichen und regte sich mit einer ungelenken, aber lebensähnlichen Bewegung". Es ist die Geburtsstunde von "Frankenstein oder Der moderne Prometheus" (1818), dem wohl bekanntesten Horror-Roman der Weltliteratur.

Stand: 17.09.2011

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