Stichtag

05. September 2009 - Vor 80 Jahren: Aristide Briand hält Rede für geeintes Europa

Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Idee eines vereinten Europa populär: Wenn die europäischen Staaten einen Union bilden, werden sie einander nicht mehr angreifen, so die Vorstellung. In den 1920er Jahren entstehen mehrere Initiativen: der "Bund für Europäische Cooperation", das "Internationale Komitee für eine europäische Union" und - als einflussreichste Bewegung - die "Paneuropa-Union". Deren Ziel ist Gründung eines europäischen Staatenbundes - mit einem Bundesgericht, einem Militärbündnis, einer Zollunion und einer gemeinsamen europäischen Währung. 1926 wird Frankreichs Außenminister Aristide Briand Ehrenpräsident der "Paneuropa-Union". Drei Jahre später ist er der erste, der das Vereinte Europa auf der internationalen politischen Bühne anspricht. "Ich denke, dass unter den Völkern, die geographisch zusammen gehören wie die Völker Europas, eine Art föderatives Band existieren muss", sagt Briand am 5. September 1929 in seiner Rede vor der Versammlung des Völkerbundes in Genf. "Diese Gemeinschaft möchte ich versuchen, ins Leben zu rufen."

"Die Rede hat damals großes Aufsehen erregt, weil niemand so etwas erwartet hätte", sagt Geschichtsprofessor Wilfried Loth von der Universität Duisburg-Essen. "Auch die Beamten des Pariser Außenministeriums wussten nichts von dieser Rede." Briand hat sie auf dem Weg nach Genf geschrieben. Sein Vorstoß ist auch ein Schachzug, um Deutschland in die Schranken zu weisen. Zwar haben sich Frankreich und Deutschland vier Jahre zuvor im Vertrag von Locarno verpflichtet, ihre gemeinsamen Grenzen nicht zu verletzen. Doch Briand fürchtet, dass die Deutschen nach Osten expandieren könnten. Das gefährdet Frankreichs Großmacht-Stellung. Historiker Loth bezeichnet Briands Vorgehen als "Sicherung französischer Interessen mit europäischen Mitteln".

Die Begeisterung über Briands Rede hält nicht lange an. Vier Tage später tritt der deutsche Außenminister Gustav Stresemann ans Rednerpult. Er weicht Briands Initiative diplomatisch aus. Er lehnt eine "Neugestaltung des Staatenverhältnisses in Europa" nicht rundweg ab, weist aber auf Hindernisse hin - die lästigen Zölle, die langen Wartezeiten an den Grenzen bei Fahrten mit der Eisenbahn. Doch zu einer stärkeren wirtschaftlichen Zusammenarbeit kommt es nicht: Im Oktober 1929 beginnt mit dem Schwarzen Freitag an der New Yorker Börse die Weltwirtschaftskrise. Protektionismus ist das Rezept der Regierungen - statt die Zollgrenzen in Europa niederzureißen. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, verschwindet das Projekt von der politischen Agenda. Statt des europäischen Staatenbundes kommt der Zweite Weltkrieg.
Nach Kriegsende gibt es schon bald einen neuen Anlauf zur europäischen Einigung. Der erste große Schritt erfolgt 1950: Frankreichs Außenminister Robert Schuman  schlägt die Bildung einer sogenannten Montanunion vor. Im Jahr darauf unterschreiben Frankreich, die Bundesrepublik, Italien und die Benelux-Staaten den Vertrag zur Gründung der "Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl" (EGKS). Er gilt später als "Geburtsurkunde" der Europäischen Gemeinschaft (EG) und der daraus hervorgegangenen Europäischen Union (EU).

Stand: 05.09.09