Deportation von Juden in Amsterdam, 1943

Stichtag

3. März 1941 - Hans Calmeyer beginnt Juden in den Niederlanden zu retten

Hans Calmeyer ist am 3. März 1941 froh, dass er sich an einen Schreibtisch setzen kann. Endlich ein ruhiger Bürojob, kein Soldat mehr, keine Wehrmacht. Militär und Nationalsozialismus sind ihm unheimlich. "Ablesen konnte es jeder, der nicht die Augen zudrückte: Dass sämtliche Verordnungen auf die Vernichtung der Juden abzielen müssten", erinnert sich der Jurist nach dem Krieg. Die Stelle in der deutschen Besatzungsverwaltung im niederländischen Den Haag hat ihm ein Bekannter besorgt. Calmeyer, ein fescher, schlanker Mann mit rotem zurück gekämmten Haar, will nur heil durch den Krieg kommen.

"Entscheidungsstelle in Zweifelsfällen der Abstammung"

In seiner Heimatstadt Osnabrück ist der 1903 als Sohn eines Richters geborene Calmeyer ein Staranwalt. Er liebt sein Opel-Cabrio mit den roten Sitzen – und die Frauen. Auch in Holland. Doch der Holocaust holt ihn ein. "Der Jude ist die große Gefahr der Menschheit. … Man muss sie vernichten! Man muss sie ausrotten!" brüllt der NS-Reichsorganisationsleiter Robert Ley 1942 in Amsterdam auf einer Kundgebung. Der Verwaltungsjurist Hans Calmeyer führt Aufsicht über den Prozess, den er "registermäßige Erfassung der Juden" bezeichnet. Die dezentralisierte Verwaltung, die die antijüdische Politik im besetzten Holland durchführt, verschafft Calmeyer Spielräume: Er bildet die "Entscheidungsstelle in Zweifelsfällen der Abstammung". Tausende bereits als Juden registrierte Bürger erheben hier Einspruch gegen ihre Abstammung. Bei seinen Vorgesetzten argumentiert er: Wenn man Juden eindeutig klassifizieren will, muss das auch mit deutscher Gründlichkeit geschehen.

Calmeyer stellt lebensrettende Atteste aus

Ruth van Galen ist 14 Jahre alt, als Hans Calmeyer ihr das Leben rettet. Per "Seitensprung-Arisierung". Er bestätigt ihrer Großmutter amtlich, dass sie damals durch einen Seitensprung mit einem Arier schwanger geworden sei. Ruth van Galen: "Er hat dann unterschrieben. Und damit hatten wir zwei nichtjüdische Großeltern, und waren eigentlich gerettet." Denn sogenannte Mischlinge werden in der Regel nicht deportiert. Calmeyer ermuntert Juden, sich gefälschte Abstammungsurkunden zu besorgen oder fingierte Blutgruppen-Tests. Er akzeptiert alles, was gerade noch zu vertreten ist. Zwei Drittel der Antragsteller kommen damit durch. Ihr Leben ist gerettet. Und für die anderen ist das Verfahren wichtig, um Zeit zu gewinnen.

Vermutlich 7.000 Menschen vor der Deportation bewahrt

Laut dem Biografen Peter Niebaum sind in etwa 3.000 nachgewiesenen Einzelfällen Calmeyers Bescheinigungen die letzte Rettung: "Man muss berücksichtigen, ... dass in diesen individuellen Fällen in aller Regel nicht nur Einzelpersonen betroffen waren, sondern ganze Familien." Vermutlich bewahrt Calmeyer vom Schreibtisch aus bis zu 7.000 Menschen vor der Deportation. Nach dem Krieg wird er interniert, angeklagt, und bald freigesprochen. 1947 kehrt er zurück nach Osnabrück und arbeitet wieder als Anwalt. Er ist verschlossener, ernster; bis zum Lebensende beschäftigt ihn die Zeit des Nationalsozialismus.

Insgesamt wurden während des Zweiten Weltkriegs etwa 107.000 niederländische Juden deportiert, nur 5.000 kehrten nach der Befreiung aus den Lagern zurück. Etwa 75 Prozent der in den Niederlanden lebenden jüdischen Bevölkerung war ermordet worden. Sein Biograf Peter Niebaum: "Ein Gefühl saß bei ihm ganz tief: Ich hätte gern mehr getan, ich konnte nicht mehr tun. Man hätte noch mehr tun müssen." Hans Calmeyer stirbt 1972 mit 69 Jahren an Herzversagen. Über seine Rolle in Holland hat er nach dem Krieg nur wenig gesprochen.

Stand: 03.03.2011

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