Stichtag

22. November 2004 - Vor 45 Jahren: Erster Auftritt des Sandmännchens

Sein erster Auftritt ist ein Präventivschlag der DDR: Dort vermutet man im Herbst 1959, dass der Klassenfeind kurz vor der Vollendung eines Fernseh-Sandmännchens steht. Also muss der Deutsche Fernsehfunk innerhalb von nur zwei Wochen eine eigene Leitfigur für die Gute-Nacht-Geschichte erfinden. Dessen Auftritt am 22. November 1959 ist entsprechend unausgereift: Das Sandmännchen wirkt selbst müde und schläft am Ende an eine Hauswand gelehnt ein. Die jungen Zuschauer sind beunruhigt und bieten dem kleinen Wicht in Briefen das eigene Bettchen an. Zeichner Gerhard Behrend korrigiert die Augen des Sandmanns und der Bühnenbildner Harald Serowski bastelt die beliebten Rahmenszenen, in denen das Kind mit Ulbricht-Bart und Zipfelmütze in allen nur denkbaren Fahrzeugen die Kinder der Welt bereist: im Trabi und auf dem Schlitten, mit dem Panzer oder einem fliegenden Teppich, im Heißluftballon oder auf einer Rakete. Er hat jetzt Zeit für seine Erfindungen, denn der Gegenschlag des Westfernsehens lässt auf sich warten - bis 1962.

Die Vorgeschichte des niedlichen Schlafbringers ist gar nicht kindgerecht. Der Ur-Sandmann ist ein Geschöpf von Fantasy-Autoren der Romantik. In einer Erzählung von E.T.A. Hoffmann streut ein böses Monster Sand in die Augen der Menschenkinder. Anschließend hackt seine Brut die Augen aus. Friedlicher ist da "Ole Augenschließer", der Sandmann im Märchen von Hans-Christian Andersen: Er schüttet süße Milch in Kinderaugen.
Das Fernsehen übernimmt von Hoffmann den Sand als Betäubungsmittel, aber von Andersen die friedliche Absicht. Der Sandmann will den Kindern den Weg ins Bett erleichtern, und das gelingt dem Ost-Sandmann besser als seinen Kollegen im Westen. Ob der NDR einen Sandmann mit Seemannsbart erfindet oder der WDR 1967 sogar eine Frau "Sandmann International" durch NRW schickt - die Kinder lieben das DDR-Männchen mehr. Als ihm nach der Wende die Abwicklung droht, organisieren sie Protestschreiben und Demonstrationen. Das kleinste Geschöpf des Kalten Krieges setzt sich erneut durch und singt bis heute jeden Abend sein "Ich wünsch' euch gu-hu-te Nacht" - jetzt im Kinderkanal.


Stand: 22.11.04