Stichtag

20. November 2010 - Vor 100 Jahren: Lew Tolstoi stirbt in Astapowo

Lew Nikolajewitsch Tolstoi wünscht sich ein moralisches, religiöses - schlichtweg ein bescheideneres Dasein. "Meine Lage im Haus ist untragbar geworden", schreibt der 82-Jährige in seinem Abschiedsbrief an seine Frau Sophia Andrejewna. "Von allem anderen abgesehen, kann ich nicht länger in diesen Verhältnissen des Luxus leben."

Zuvor hat Tolstoi vergeblich versucht, Sophia Andrejewna zur Aufgabe der gemeinsamen Besitztümer zu bewegen. Ende Oktober 1910 macht sich der Schriftsteller in Begleitung seines Arztes und seiner jüngsten Tochter von seinem Landgut aus auf den Weg, um Konstantinopel und einige Klöster zu besuchen.

Schuld und Reue

Geboren wird Tolstoi 1828 als vierter Sohn eines adeligen Gutsbesitzers in Jasnaja Polnja. Mit neun Jahren wird er Vollwaise. Nach einem halbherzigen Versuch, die Situation der 350 geerbten Leibeigenen zu verbessern, sucht er in Moskau und Sankt Petersburg seit 1848 bei Jagd und Gelagen Zerstreuung im Kreise wohlhabender junger Adliger. Es ist ein Leben in Intervallen, bei dem sich ungezügelte Leidenschaft und  übermäßige Tugend abwechseln. Später wird Tolstoi diese Zeit jugendlicher Vergnügungssucht als "triebgesteuerte Zeit der Schande" ebenso verklären wie seine überglückliche und unschuldige Kinderzeit.

1869 erleidet Tolstoi eine von Depressionen, Todesängsten und Selbstzweifeln geprägte "seelische Epilepsie". Zehn Jahre später vollzieht sich endgültig der Wandel hin zu einer tief religiös - von Nächstenliebe und radikaler Gewaltlosigkeit - bestimmten Sicht der Welt. 1884 arbeitet er sogar eine Zeitlang als Schuster, um am einfachen Leben teilzuhaben. Ein Jahr später gründete er den Verlag "Der Vermittler" als Forum religiös-moralischer Schriften. Seine Berühmtheit sorgt für Massenwirkung: Bis 1891 werden 20 Millionen Bücher verkauft.

Anspruchsloses Leben

Im Juli 1891 erscheint Tolstois berühmter Brief, in dem er auf alle Ansprüche an Werken verzichtet, die vor seiner "zweiten Geburt" geschrieben wurden. Dies bezieht sich vor allem auch auf seine Romane "Krieg und Frieden" (1868/69) und "Anna Karenina" (1875-1877), die zu den großen Meisterwerken der Weltliteratur zählen.

Konstantinopel und die Klöster wird Tolstoi nie zu Gesicht bekommen. Die beschwerliche Reise zehrt schon früh an seinen Kräften. Kurz nach der Flucht aus seinem Luxusleben wird er von heftigem Schüttelfrost überfallen und fiebernd ins Haus eines Stationsvorstehers nach Astapowo gebracht. Aus Angst, seine Frau Sophia Andrejewna könne ihm gefolgt sein, lässt er das Fenster seines Krankenlagers mit einem Tuch verhängen.

Tod auf dem Bahnhof

Kurz vor Tolstois Tod wird Sophia Andrejewna doch noch herbeigeholt. Als sie aus dem Zug steigt, ist der Bahnhof bereits voller Tolstoi-Jünger - neben einer Schar von Journalisten, Priestern und Beamten der geheimen Staatspolizei. Als seine Frau zu ihm gelassen wird, liegt Tolstoi bereits im Koma und erkennt sie nicht mehr. Er stirbt am 20. November 1910.

Stand: 20.11.10