Stichtag

25. März 2010 - Vor 175 Jahren: Adolph Wagner wird geboren

Der Sozialstaat als Idealvorstellung einer gerechten Gesellschaft ist älter als die Bundesrepublik. Bereits 1875 stellt der Nationalökonom Adolph Wagner fest, dass Sozialstaatlichkeit eine unvermeidbare Folge der gesellschaftlichen Entwicklung sei: "Geschichtliche und räumliche Ländervergleiche" hätten ergeben, dass "bei fortschreitenden Kulturvölkern [...] regelmäßig eine Ausdehnung der Staatstätigkeiten" erfolge. Im Industriestaat wird die Wirtschaft arbeitsteiliger, die Großfamilie als Hilfsgemeinschaft gibt es nicht mehr, sagt Gustav Horn, Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Düsseldorf: "Deshalb brauchte man als Ersatz für diese zerfallenden großfamiliären Strukturen den Staat, der die sozialen Risiken - Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit - mit trägt." Durch die Zunahme der staatlichen Aufgaben zur Gewährleistung des Gemeinwesens wachsen automatisch Einnahmen und Ausgaben des Staates. Das ist der Kern des sogenannten Wagnerschen Gesetzes. Als Beleg dafür kann die Entwicklung der Staatsquote herangezogen werden, also der Anteil der staatlichen Ausgaben an der volkswirtschaftlichen Gesamtleistung. Derzeit liegt die Quote bei fast 50 Prozent, 1960 waren es nur 33 Prozent und im Kaiserreich lediglich etwa zehn bis 15 Prozent.

Wagner stammt aus einer protestantischen Pastoren-Familie. Er wird am 25. März 1835 in Erlangen geboren, studiert nach dem Abitur Recht und Wirtschaft in Heidelberg und Göttingen. Er wird Hochschullehrer und kommt nach mehreren Zwischenstationen 1870 nach Berlin. Als er sieht, welche Ungleichheiten die Industrialisierung zur Folge hat, verabschiedet er sich von der wirtschaftsliberalen Denkschule. Obwohl er ein konservativer Monarchist bleibt, hat er Sympathie für die aufkommende Sozialdemokratie - und wagt den Spagat in seiner Wirtschaftstheorie, die er als "Staatssozialismus" bezeichnet: "Der Staatssozialismus kommt prinzipiell dem Sozialimus entgegen, weil er dessen Kritik teilweise für berechtigt und dessen Forderungen [...] für erwünscht hält." Das bedeutet: Verstaatlichung bestimmter Bereiche wie Bahn, Banken und Versicherungen. Wagner sucht den "dritten" Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Er fordert mehr Staatseingriffe wie etwa besseren Arbeitsschutz und das Verbot von Kinderarbeit.

Wagner will straffe Reformen von oben durch eine starke, parlamentarisch-monarchistische Hand - keine Revolution, die den ganzen Staatsapparat auf den Kopf stellt. Die Sozialdemokraten verspotten ihn als "Katheder-Sozialisten" oder "Psalmist des sozialen Königtums". Aus dem rechten Lager lautet der Vorwurf: "Sozialismus von oben". Obwohl Wagner zwischen allen Stühlen sitzt, macht er Karrierre und wird 1895 Rektor der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität. Er gehört zu den einflussreichsten Ökonomen während der Regierungszeit Otto von Bismarcks. Dass er mittlerweile weitgehend in Vergessenheit geraten ist, dürfte mit den Schattenseiten seiner Biografie zu tun haben. Zum einen unterstützt er die aggressive Flottenpolitik des Deutschen Reiches. Zum anderen ist er Mitglied der Christlich-Sozialen Arbeiterpartei des Hofpredigers Adolf Stoecker, die eine anti-semitische Hetzkampagne auslöste. Wagner selbst schreibt damals von "bedenklichen Seiten des jüdischen Stammescharakters". Er stirbt im Alter von 82 Jahren am 8. November 1917 in Berlin.

Stand: 25.03.10