Stichtag

26. Juli 2009 - Vor 825 Jahren: Erfurter Latrinensturz

Das Gedränge ist groß: Ritter, Grafen und Bischöfe sind extra angereist, um den Sohn von Kaiser Friedrich Barbarossa in Erfurt zu sprechen. Der 19-jährige Heinrich, der 1169 zum deutschen König gewählt worden ist, soll in einem Zwist vermitteln. Erzbischof Konrad und Ludwig von Thüringen liegen bereits seit längerem im Clinch: Erfurt gehört zum Bistum Mainz, dessen Oberhirten auch als weltliche Herren der Stadt auftreten. Das passt weder dem Thüringer Adel noch der aufstrebenden Bürgerschaft. Der spätere Kaiser Heinrich VI. soll ein Machtwort sprechen. Der Saal im ersten Stock, in dem Heinrich am 26. Juli 1184 Hof hält, ist zum Bersten voll.

Diesem Gewicht halten die morschen Balken des Gebäudes nicht stand. Unter den versammelten Würdenträgern bricht plötzlich der Boden ein. Ein Großteil der Edelleute fällt ins Erdgeschoss und von dort weiter nach unten: "Viele stürzten in die darunter befindliche Abtrittsgrube, deren einige mit Mühe gerettet wurden, während andere im Morast erstickten", steht in der Chronik des Klosters St. Peter. Darin werden auch die getöteten Grafen "und andere geringeren Namens" aufgeführt. Die Anzahl der Opfer ist unklar. Angeblich sollen es 60 Tote gewesen sein. "In späteren Quellen, die nicht mehr authentisch sind, wird von einigen hundert Toten berichtet, das halte ich für übertrieben", sagt Hardy Eidam, Direktor des Stadtmuseums Erfurt.

Der sogenannte Erfurter Latrinensturz thematisiert einen Ort, der in der Geschichtsschreibung üblicherweise kaum erwähnt wird: das "geheime Gemach". Gewaltige Abort-Gruben sind im Mittelalter die Regel. "Fast jeder Haushalt hatte hinter seinem Grundstück eine solche Kloake", erklärt der Kölner Archäologe Sven Schütte. "Es gab schon im Sachsenspiegel, dem Rechtsbuch, Abstandsregelungen." Damit sollten Streitereien über Geruchsbelästigungen vermieden werden. Mittelalterliche Sickergruben geben Forschern heute Auskunft über die damaligen Essgewohnheiten und Hygienestandards. So ist festgestellt worden, dass nahezu alle Menschen aufgrund der Latrine unter Eingeweide-Parasiten gelitten haben. Die Wurm-Eier in den Fäkalien sind ins Grundwasser gelangt und von dort in die Brunnen. Die Reinigung der Gruben ist aufwändig und teuer, da sie nur im Winter und bei Nacht durchgeführt werden darf. Deshalb wartet man so lange wie möglich, bis man die "Goldgrübler" ruft, die Entsorgungsunternehmer des Mittelalters. In manchen Städten ist auch der Henker dafür zuständig. Aus alten Rechnungsbüchern geht hervor, dass manche Anlagen über Jahrzehnte nicht geleert wurden.Die Erfurter Latrine ist nicht erhalten. Das Gelände, auf dem der Hoftag wahrscheinlich stattgefunden hat, ist im Lauf der Jahrhunderte mehrfach überbaut worden. König Heinrich hat damals Glück: Er sitzt in einer Fensternische und kann über eine Leiter gerettet werden. Heinrich soll Erfurt umgehend verlassen haben. Sieben Jahre später folgt er seinem Vater auf den Kaiserthron. Heinrich stirbt, noch keine 32 Jahre alt, 1197 in Messina - nach schweren Durchfällen.

Stand: 26.07.09