Stichtag

1. August 1989 - Ungarn hebt Sperrzone an der Grenze auf

Im ungarischen Grenzstädtchen Kőszeg empfängt Oberst Balazs Novaky, stellvertretender Kommandeur der Grenzwache, am 1. August 1989 Journalisten aus aller Welt zu einer Pressekonferenz. In den letzten drei Monaten habe Ungarn 117 von 280 Kilometern der Grenzsperranlagen zu Österreich abgebaut, sagt er den Reportern. Bis spätestens 1991 solle die ungarisch-österreichische Grenze so aussehen wie andere westeuropäische Staatsgrenzen auch. "Mit Wirkung vom heutigen Tag wird hier das Grenzsperrgebiet aufgehoben", so Novaky. Gemeint ist damit jener Streifen von fünf bis 15 Kilometern vor dem eigentlichen Grenzzaun, wo in der Regel die meisten Fluchtversuche scheitern. "Alle Menschen, die wir beim illegalen Grenzübertritt aufgreifen, werden von nun an nicht mehr in ungarische Gefängnisse überführt", sagt Novaky. "Sie bekommen nur einen Stempel in ihren Pass. Dann werden sie zurückgeschickt in ihre Heimat." Dann der Fototermin: Ungarische Grenzsoldaten zerschneiden mit Zangen das Drahtgeflecht eines Grenzzauns. Der Stacheldraht wird zusammengerollt.

Zu diesem Zeitpunkt stehen die Wohnwagen und Zelte dicht an dicht auf den Campingplätzen des Balaton. Daneben Autos mit dem Kennzeichen: DDR. Die Ostdeutschen machen gerne Urlaub in Ungarn, aber in diesem Sommer sind es besonders viele. Das hat einen Grund: Anfang März 1989 hat der ungarische Ministerpräsident Miklós Németh den sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow in Moskau besucht. Er kündigte freie Wahlen in seinem Land an und den Abbau der Sperranlagen an der Grenze zu Österreich. Németh fragte, wie sich die Sowjetunion dazu verhalten werde. Gorbatschow sagte: "Solange ich auf diesem Stuhl sitze, werden wir die Verbrechen von 1956 nicht wiederholen."

Auf den Campingplätzen tauchen Flugblätter auf, auf denen für den 19. August 1989 zu einem "paneuropäischen Picknick" nach Sopronkőhida, "am Ort des Eisernen Vorhangs" eingeladen wird. Als Schirmherren der Veranstaltung genannt werden Otto von Habsburg, Abgeordneter im EU-Parlament, und Imre Pozsgay, ungarischer Staatsminister. "Baue ab und nimm mit", steht auf den Flugblättern. Gemeint ist die symbolische Öffnung des Grenztores zwischen dem ungarischen Sopronkőhida und dem österreichischen St. Margarethen. Daneben eine Skizze und - in deutscher Sprache - die Beschreibung der Anfahrtswege zu diesem Picknick. Mindestens 200 DDR-Bürger nutzen die Veranstaltung zur Flucht nach Österreich, als das sonst verschlossene Grenztor geöffnet wird. Damit bricht der Damm: Die DDR-Urlauber verlassen die Campingplätze. Es kommt zu einer Massenflucht. Einige fahren nach Budapest zur westdeutschen Botschaft, andere an die Grenze zu Österreich. In der Nacht vom 10. zum 11. September 1989 lässt Ungarn alle Flüchtlinge ausreisen - ohne Absprache mit der DDR-Regierung. Ende September zählt die Statistik 30.000 Ostdeutsche, die ihr Land über Ungarn Richtung Westen verlassen haben.

Stand: 01.08.09