Stichtag

11. September 2009 - Vor 55 Jahren: Bundessozialgericht in Kassel eröffnet

"Tausende von Revisionen und Rekursen schweben seit Jahren und können nicht erledigt werden, weil ein oberstes Sozialgericht nicht vorhanden ist." Der SPD-Abgeordnete Rudolf Freidhof bringt die Situation während einer Bundestagsdebatte 1953 auf den Punkt. Kriegsgeschädigte Soldaten, Witwen und Waisen warten damals auf eine rechtsgültige Entscheidung in letzter Instanz. Das Reichsversicherungsamt und das Reichsversorgungsgericht haben die Besatzungsmächte 1945 aufgelöst. Den entstandenen Entscheidungsstau soll nun eine neu geschaffene Autorität auflösen: In Kassel wird am 11. September 1954 das Bundessozialgericht feierlich eröffnet. Es wird im Gebäude des ehemaligen deutschen Generalkommandos der Wehrmacht untergebracht. Am 23. März 1955 findet die erste öffentliche Sitzung statt.

Als die Bundesrichter ihre Arbeit aufnehmen, geht es bei der Hälfte aller Streitfälle um die Kriegsopfer-Versorgung und entsprechende Entschädigungsprogramme, die schließlich auch auf die Opfer des Nationalsozialismus ausgedehnt werden. Rasch folgen andere Themen, etwa die Berufs- und Erwerbsunfähigkeit oder die Definition von Berufskrankheiten - und in den letzten Jahren die Klageflut  durch die Hartz-IV-Gesetzgebung. "Das Sozialrecht ist von einer außerordentlichen Schnelllebigkeit geprägt", sagt Peter Mausch, Präsident des Bundessozialgerichts. So wurde allein das Arbeitsförderungsgesetz zwischen 1969 und 1992 100 Mal verändert.

Das Bundessozialgericht ist einzigartig in Europa. Es ist einer von insgesamt fünf obersten Gerichtshöfen in der Bundesrepublik. In Kassel geht es immer um Einzelschicksale. Doch die Urteile wirken über den Einzelfall hinaus und werden zu Musterprozessen. Oft müssen gerade arme und kranke Menschen ihr soziales Recht einfordern. Das Verfahren ist für sie deshalb kostenfrei."Ohne das Bundessozialgericht wäre der Sozialstaat Bundesrepublik, so wie er existiert, nicht vorstellbar", sagt Heribert Prantl, Jurist und Leiter des Ressort Innenpolitik bei der "Süddeutschen Zeitung". "Dieses Gericht hat den Sozialstaat konkret gemacht." Es sei "sozusagen ein Gesetzes-Reparaturbetrieb", der den jeweiligen Interpretationsspielraum, den der Gesetzgeber gelassen habe, im Sinne des Grundgesetzes nutze. "Die Sozialgerichte wirken schon ganz wesentlich dabei mit, die Sozialgesetzgebung wirklich sozial zu machen."

Stand: 11.09.09