Stichtag

07. Mai 2009 - Vor 85 Jahren: "Cumhuriyet" wird gegründet

1923 wird die Republik Türkei gegründet. Innerhalb weniger Jahre verordnet Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk  der Bevölkerung eine Fülle von Reformen. Er schafft unter anderem das islamische Kalifat als Regierungsform ab, verbietet das Tragen religiöser Kleidung, führt eine Zivilgesetzgebung nach westeuropäischem Vorbild und das Frauenwahlrecht ein. Doch noch steht das Land nicht geeint hinter Atatürk. "Ein Hindernis war der heimliche Widerstand in Istanbul", sagt Rainer Hermann, langjähriger Türkei-Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". "Die Zeitungen waren nicht glücklich über die Verlegung der Hauptstadt nach Ankara." Deshalb habe sich Atatürk Anfang 1924 entschlossen, "eine Zeitung in Istanbul zu etablieren, die seine Politik verfolgt."

Am 7. Mai 1924  erscheint die erste Ausgabe der Tageszeitung "Cumhuriyet " ("Republik"). Sie ist die erste Tageszeitung der türkischen Republik. Ihr Name ist Programm: Die tiefgreifenden Veränderungen sollen der Bevölkerung bekannt gemacht werden. So lautet am 26. November 1925 die Schlagzeile: "Jeder wird verpflichtet, Hüte zu tragen!" Atatürk verbietet den osmanischen Fes aus rotem Filz. Weil für den Staatsgründer die arabischen Buchstaben die Alphabetisierung der Türken behindern, stellt "Cumhuriyet " 1928 als erste türkische Zeitung auf das lateinische Alphabet um. Die Auflage sinkt, weil kaum noch jemand das Blatt lesen kann. Doch das wird in Kauf genommen. Im Leitartikel vom 1. Dezember 1928 schreibt der Chefredakteur: "Eine Revolution kann nicht realisiert werden, ohne dass sie jemandem Mühe bereitet, ja sogar schadet. Andernfalls wären die Revolutionen nicht so wertvoll. Für die Türkei, die sich an Europa orientiert, haben die neuen Buchstaben eine weit reichende Bedeutung." Das neue Alphabet setzt sich durch.

"Cumhuriyet " trägt auch sonst wesentlich zur westlichen Ausrichtung der Türkei bei. 1929 wirbt die Zeitung für den ersten Schönheitswettbewerb der Türkei. Drei Jahre später wird die von "Cumhuriyet" gekürte "Miss Türkei" sogar "Miss Universum". Atatürk gratuliert persönlich per Telegramm. In den folgenden Jahrzehnten verfolgt das Sprachrohr der kemalistischen Elite immer wieder ein Ziel: die Verteidigung des Staates gegen religiöse Einflüsse. "Der türkische Laizismus hatte versucht, Religion aus dem gesellschaftlichen Raum zu verdrängen", erklärt Hermann. Das sorgt für heftige Reaktionen. Allein in den 90er Jahren werden fünf Journalisten der "Cumhuriyet" ermordet - drei von ihnen mutmaßlich von islamistischen Terroristen. Mit dem Wahlsieg von Necmettin Erbakan 1996 rückt der Islam in die Mitte der türkischen Politik. Das Militär reagiert, unterstützt von "Cumhuriyet". Am 1. März 1997 meldet die Zeitung, der nationale Sicherheitsrat trete den Versuchen entgegen, das islamische Recht einzuführen. Erbakan muss zurücktreten. Doch das Erstarken des gemäßigten Islam kann auch von "Cumhuriyet " nicht verhindert werden. Ihre Auflage und ihr gesellschaftlicher Einfluss schrumpfen.

Stand: 07.05.09