Stichtag

08. August 2008 - Vor 45 Jahren: Überfall auf den Postzug Glasgow - London

Pünktlich um 18.50 Uhr rollt der Postzug Ihrer Majestät aus dem Bahnhof von Glasgow. Sein Ziel ist London, wo er um 3.41 Uhr eintreffen soll. Alles läuft nach Plan in dieser Nacht vom 7. auf den 8. August 1963 - jedenfalls bis 03.05 Uhr. Wegen eines Signals, das merkwürdigerweise auf rot steht, stoppt der Zug. Sekunden später beginnt der spektakulärste Raubüberfall des Jahrhunderts. Das Ziel von etwa 20 maskierten Männern ist der Geldwaggon, in dem in dieser Nacht rund 120 Säcke liegen. Ihr Inhalt: 2.631.784 Pfund in kleinen, gebrauchten, nicht registrierten Scheinen. Generalstabsmäßig organisiert entwaffnen die Gangster alle Wachen und schaffen die Säcke per Menschenkette in die Fluchtwagen. Der einzige wirklich gewalttätige Akt während der nur 15-minütigen Aktion ist ein Schlag auf den Hinterkopf des Lokführers, den dieser mit einer Gehirnerschütterung übersteht. Als nach einer Stunde die Polizei eintrifft, fehlt von Geld und Räubern jede Spur.

Am Morgen rast die Meldung vom ersten erfolgreichen Überfall auf ein "rollendes Postamt" seit 125 Jahren um die Welt. Klammheimlich macht sich Bewunderung breit für die "Gentleman-Räuber", die, nach heutigem Wert, weit über 50 Millionen Euro erbeutet, aber nicht eine verwertbare Spur hinterlassen haben. Zu ihrer Ergreifung wird eine Belohnung von 200.000 Pfund ausgesetzt. Unter der einsetzenden Lawine von Hinweisen entdeckt Scotland Yard am 13. August endlich einen brauchbaren Tipp auf den Schlupfwinkel der Gangster. Zwei Tage später sitzen die ersten beiden Posträuber schon hinter Gittern. Nach dem bis dahin längsten und aufwändigsten Prozess der britischen Justizgeschichte verurteilt der Richter die Hauptangeklagten zu unerwartet drakonischen Strafen zwischen 20 und 30 Jahren Zuchthaus. Der "Mastermind" der Bande, der Antiquitätenhändler Bruce Reynolds, fehlt allerdings noch auf der Anklagebank. 1966 wird er in der deutschen TV-Verfilmung des Falles ("Die Gentlemen bitten zu Kasse") von Horst Tappert dargestellt.

Im November 1968 klicken die Handschellen auch um Reynolds' Handgelenke. Er wird zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt, kommt jedoch bereits nach neun Jahren wieder frei. Zum berühmtesten aller Posträuber steigt nicht das Superhirn auf, sondern Ronald Biggs. Der später oft fälschlicherweise als Kopf der Bande beschriebene Kleinkriminelle spielte bei dem Überfall nur eine kleine Nebenrolle. Nach 15 Monaten Gefängnis bricht Biggs aus, flieht unter Anteilnahme der Weltpresse über Frankreich und Australien nach Brasilien und macht dort in den folgenden Jahren eine schillernde Karriere als Touristenattraktion. Als Vater eines Brasilianers - Biggs hat nach seiner Ankunft umgehend eine Striptease-Tänzerin geschwängert - darf der flüchtige Posträuber nicht ausgeliefert werden. Schlagzeilen macht er unter anderem als Gastsänger bei den Sex Pistols und den Toten Hosen. Alt, krank und völlig abgebrannt kehrt Ronald Biggs im Mai 2001 nach 35 Jahren auf der Flucht nach England zurück. Noch auf dem Flugfeld wird er von Scotland Yard  verhaftet. Gnade findet er bei den Justizbehörden nicht, denen er so lange auf der Nase herumgetanzt ist. Bis in die Gegenwart verbüßt der inzwischen 77-Jährige Star-Posträuber seine Strafe im Gefängnis von Norwich.

Stand: 08.08.08