Stichtag

23. Juni 2004 - Vor 110 Jahren: Alfred Charles Kinsey wird geboren

Jede vierte Ehefrau ist untreu, jede zweite Braut am Hochzeitstag nicht mehr unschuldig und knapp vier Prozent der befragten Frauen haben schon einmal sexuellen Kontakt zu einem Tier gehabt. Diese Erkenntnisse sind unerhört, zumindest im puritanischen Amerika der frühen fünfziger Jahre. Alfred Charles Kinsey, Professor für Zoologie an der Universität von Indiana, bringt sie unter die Leute. Sein Werk "Das sexuelle Verhalten der Frau" erscheint 1953, fünf Jahre nach dem Band "Das sexuelle Verhalten des Mannes". Beide Bücher entwickeln die Sprengwirkung einer "sozialen Atombombe", wie ein Magazin damals schreibt.Dabei sind die viele hundert Seiten dicken Bände staubtrocken geschrieben und mit zahllosen Statistiken angefüllt. Fast 18.000 Amerikanerinnen und Amerikaner befragen Kinsey und seine Kollegen. Fazit: Unter den Bettdecken, auf den Couchen, in den Autos und Heuschobern tut sich mehr, als dem konservativen Amerika lieb ist. Die Verbreitung von Petting, Anal- und Oralverkehr, Selbstbefriedigung und Homosexualität ist für die einen ein Schock, für die anderen aber befreiend. Proteste von Frauenverbänden oder Jugendschützern können den Erfolg der Kinsey-Studien nicht aufhalten – "ein absolutes Jahrhundertwerk, ohne das unser Jahrhundert anders ausgesehen hätte", wie der deutsche Aufklärer Oswalt Kolle findet.

Am 23. Juni 1894 wird Alfred Charles Kinsey im US-Staat New York als Sohn eines Collegelehrers geboren. Seine eigene wissenschaftliche Karriere startet er als Experte für die Gallwespe, ein wenige Millimeter großes Insekt. 35.000 der Tierchen untersucht Kinsey, bevor er sich mit gleicher Akribie der Spezies Mensch zuwendet und die Kluft zwischen moralischer Norm und Realität offen legt. Auch Kinseys eigene Sexualität, so schildert es sein Biograf James Jones, ist vielfältiger, als es das lange gepflegte Bild des biederen Ehemanns und vierfachen Vaters nahe legt. Jones schreibt von Swingerpartys, Ausflügen in Homo-Bars und masochistischen Neigungen des bekannten Sexualforschers, der 1956 im Alter von 62 Jahren stirbt.Stand: 23.06.04