Stichtag

20. September 2008 - Vor 100 Jahren: Alexander Mitscherlich wird geboren

"Zwei Faktoren lassen sich benennen, die ernstlich in der Geschichte der Entwicklung zu größerer Friedlichkeit im Wege standen", sagt Alexander Mitscherlich 1969 in der Frankfurter Paulskirche. "Es sind dies die leicht weckbare Feindseligkeit des Menschen" und die "unausrottbare Dummheit." Der Psychoanalytiker hat soeben den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekommen. In der Laudatio heißt es, er sei zum "Träger des nationalen Gewissens" in Deutschland geworden. Über die Grundeinstellung ihres Mannes sagt seine Witwe Margarete Mitscherlich-Nielsen später: "Er fand, dass der Mensch eine Fehlkonstruktion war." Dennoch sei er "ein Idealist" gewesen. Er habe gehofft, dass je pessimistischer er die Gegenwart und das Leben einschätzte, umso weniger würde dieser pessimistische Zustand eintreten. Alexander Mitscherlich war nach Ansicht seines Biographen Martin Dehli der Auffassung, "dass die Psychoanalyse dazu beitragen kann, dass die deutsche Gesellschaft demokratischer wird."

Alexander Mitscherlich wird am 20. September 1908 in München geboren. Er stammt aus einer Familie angesehener Naturforscher, Biologen und Chemiker. Seine Kindheit schildert er später als unglücklich. Seine Mutter sei "ewig unzufrieden" gewesen, sein Vater ein "Koloss an Leib und Zorn" - "dazwischen ich, ein einziges, einsames Kind". Mitscherlich studiert in München Geschichte, bricht jedoch 1930 nach dem Tod seines Doktorvaters das Studium ab und geht nach Berlin. Dort eröffnet er eine Buchhandlung und beginnt ein Medizinstudium. In dieser Zeit bewegt er sich in den rechtsgerichteten Gruppen um Schriftsteller Ernst Jünger und Verleger Ernst Niekisch. Als "Nationalbolschewist" Niekisch mit seinem konservativ-revolutionärer "Widerstandskreis" bei den Nazis in Ungnade fällt und verhaftet wird, kommt auch Mitscherlich 1937 für ein paar Monate in Gestapo-Haft. Später distanziert er sich: "Es ist mir noch heute schmerzlich, damals auf der falschen Seite gestanden zu haben."

Nach dem Zweiten Weltkrieg wird Mitscherlich von der "Arbeitsgemeinschaft Westdeutsche Ärztekammern" gebeten, als Berichterstatter am Nürnberger Ärzteprozess teilzunehmen. Dadurch änderte sich sein Weltbild. Entgegen der Absicht seiner Auftraggeber berichtet Mitscherlich ungeschönt über die Verbrechen der NS-Ärzte. Dafür wird er von seinen Kollegen angefeindet. Mitscherlich wendet sich der Psychoanalyse zu. Er gründet die Zeitschrift "Psyche" und baut in Heidelberg die erste psychosomatische Klinik in Deutschland auf. 1952 wird er an der dortigen Universität Professor. Drei Jahre später heiratet er die Ärztin und Psychoanalytikerin Margarete Nielsen. Anfang der 60er Jahre gründet Mitscherlich in Frankfurt am Main das Sigmund-Freud-Institut. Als "Ein-Mann-Armee der Psychoanalyse", wie ihn sein Kollege Erik Erikson nennt,  veröffentlicht Mitscherlich Streitschriften wie "Die Unwirtlichkeit unserer Städte" und "Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft". Zusammen mit seiner Frau Margarete analysiert er im Buch "Die Unfähigkeit zu trauern" den Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit. Alexander Mitscherlich stirbt am 26. Juni 1982 im Alter von 73 Jahren in Frankfurt am Main.

Stand: 20.09.08