Stichtag

26. April 2007 - Vor 5 Jahren: Amoklauf im Erfurter Gutenberg-Gymnasium

Es ist ungewöhnlich ruhig im Gutenberg-Gymnasium an jenem Morgen. Sogar die Pausenklingel wurde abgestellt, denn die Oberstufe brütet über den Abiturprüfungen. Gegen 10.45 Uhr, so wird später ermittelt, betritt Robert S. seine frühere Schule durch das Hauptportal. Eigentlich säße auch er jetzt vor seiner Abiturarbeit, hätte man ihn nicht vor einigen Monaten wegen gefälschter Atteste von der Schule verwiesen. Vor seinen Eltern hat er das die ganze Zeit verheimlicht. Jetzt ist Robert S. zurückgekehrt, bewaffnet mit einer Pistole, einer Pumpgun und einigen Hundert Schuss Munition. Er zieht sich eine schwarze Maske über den Kopf und beginnt, den wuchtigen, verwinkelten Bau aus der Gründerzeit Gang für Gang zu durchkämmen.

In unmittelbarer Nachbarschaft des Gutenberg-Gymnasiums muss sich an jenem 26. April 2002 Katrin G. vor dem Landgericht Erfurt verantworten. Die junge Frau, von Zeugen als liebes, hilfsbereites Mädchen aus gutem Haus beschrieben, ist der Brandstiftung und des 446fachen Mordversuchs angeklagt. Weil sie nicht zum Abitur zugelassen worden war, hatte sie Feuer in ihrer Schule gelegt. Verletzt wurde niemand, doch der Sachschaden war hoch. Die Zeitungen sind voll mit Berichten über ihre Tat. Im Mittelpunkt immer dieselbe Frage: Wie konnte sie so etwas tun? Mitten in die Verhandlung stürzt eine Reporterin in den Gerichtssaal: "Eben ist ein Lehrer erschossen worden! Gleich um die Ecke, im Gutenberg-Gymnasium!"

Um 11.09 Uhr treffen die ersten Polizeikräfte vor dem Gymnasium ein. In den vergangenen 20 Minuten hat der 19-jährige Robert S. bereits zwölf Lehrerinnen und Lehrer, eine Sekretärin und zwei Schüler erschossen. Wer dem ganz in schwarz gekleideten Killer begegnete, wurde wortlos mit mehreren Schüssen exekutiert. Aus einem Fenster im ersten Stock legt der Amokläufer nun auf einen Polizisten an und trifft auch ihn tödlich. Um 11.17 Uhr fällt der letzte Schuss. Von seinem ehemaligen Klassenlehrer in die Enge getrieben, tötet sich Robert S. mit einem Schuss in die Schläfe.

Wie die Brandstifterin Katrin G. wuchs auch Robert S. in einer geachteten, bürgerlichen Familie auf. Wie Katrin fiel auch Robert zuvor nie durch Gewalttaten auf. Umso mehr bestimmt nach der grauenhaften Tat neben der Trauer um die Opfer schiere Fassungslosigkeit die öffentliche Diskussion. Niemand hatte hier zu Lande so etwas für möglich gehalten. Tragödien dieser Art schienen den Vereinigten Staaten vorbehalten zu sein. Als ein Spezialkommando der Polizei am Tatabend Roberts Zimmer durchsucht, finden die Beamten Berge von Computer-Ballerspielen, darunter die brutalsten Titel, die nur auf dem Schwarzmarkt zu haben sind.

Erst mit einigem Abstand zu dem Drama im Gutenberg-Gymnasium zeigt sich, dass Robert S. nicht von heute auf morgen zum eiskalten Killer wurde. Es gab deutliche Anzeichen für sein langsames Abdriften aus der heilen Familienwelt, für die Versagensängste des schulisch überforderten Jungen und seine Flucht in eine zunehmend klaustrophobische, von Gewaltphantasien beherrschte virtuelle Scheinwelt. Aber weder Eltern noch Pädagogen deuteten die Zeichen richtig. Kein Lehrer kam auf die Idee, nach dem Schulverweis Kontakt mit den Eltern aufzunehmen. "Ich dachte wirklich, er hat keine Sorgen", gesteht Roberts Vater. "Wir leben miteinander und kennen uns häufig nicht", sagt Bundespräsident Johannes Rau in Erfurt bei der Feier zu Ehren der Opfer.

Stand: 26.04.07