Stichtag

27. Juni 1881: Juden-Pogrome in Russland

"Der jüdische Kneipier wollte mir Blut abzapfen!" Dieser Schrei einer jungen Frau soll der Auslöser der ersten Ausschreitungen gewesen sein. Er erneuert die uralte Verleumdung der "Blutlegende": Juden brauchen christliches Blut für ihre Rituale. Im Mittelalter entstanden, glauben Antisemiten das Greuelmärchen immer noch gerne - mitunter bis heute. Im Frühjahr 1881 rotten sich die Leute zusammen, erst in Elizavetgrad, dann in der Umgebung, bald auch in Kiew. Sie zertrümmern jüdische Geschäfte und Wohnungen, sie prügeln und vergewaltigen. Jüdische Schriftsteller sprechen später von den "Stürmen im Süden". Die Russen haben dafür das Wort "Pogrom", das einfach Gewitter oder Verwüstung bedeutet.Etwa fünf Millionen Juden gelangen Ende des 18. Jahrhunderts unter die Herrschaft des Zaren, als die europäischen Großmächte Polen unter sich aufteilen. Sie dürfen nur in bestimmten Gebieten des ukrainischen Südens siedeln, im sogenannten "Ansiedlungsrayon". Obwohl also rechtlich diskriminiert, gelten sie vielen als Speerspitze westlichen Kapitalismus, als Agenten einer Moderne, die den rückständigen Zarenstaat bedroht. Die Juden ziehen den Neid der Armen auf sich, obwohl die meisten Juden Russlands genauso arm sind wie ihre christlichen Nachbarn. Als dann 1881 Zar Alexander II. von Revolutionären ermordet wird, schießen antisemitische Verschwörungstheorien ins Kraut: Eine der Terroristinnen war Jüdin. Planen die Juden den Umsturz?

Die Pogrome flammen über Jahre immer wieder auf. 259 Ausschreitungen werden bis 1884 gezählt. Hunderte Juden werden getötet, Tausende verletzt. Ein Korrespondent der Londoner "Times" berichtet 1882 von 225 vergewaltigten Frauen, 17 von ihnen seien gestorben. Jüdischer Besitz im Wert von rund 10 Millionen Rubeln wird kurz und klein geschlagen oder geraubt. Die gegen die Gewalt eingesetzten Husarentruppen schauen dem Treiben mitunter nur zu. Auch die Reaktion des Regimes in St. Petersburg schafft nicht den Opfern Recht, sondern beruhigt die Antisemiten: Die Judengesetze werden verschärft. Ihnen ist der Handel an christlichen Feiertagen verboten, sie dürfen Grund und Boden nicht einmal pachten. Der Zugang von Juden zu Gymnasien und Universitäten wird beschränkt. In der Folge emigrieren über zwei Millionen Juden aus Russland, die meisten von ihnen in die USA. Pogrome gibt es immer wieder im Zarenreich, so noch 1905 in Odessa und während des Ersten Weltkriegs.

Stand: 27.06.06