Stichtag

20. November 2006 - Vor 100 Jahren: Wedekinds "Frühlings Erwachen" uraufgeführt

In einer Kloszene masturbieren Schüler um die Wette. Es gibt eine homosexuelle Liebesszene, Masochismus ist ein Thema. Deftig geht es zu in Frank Wedekinds 1890 begonnenem Dreiakter "Frühlings Erwachen", das vom Aufkeimen jugendlicher Sexualität berichtet. Zugleich nimmt Wedekind die verklemmte Sexualmoral und die verstaubten Erziehungsmethoden seiner Zeitgenossen auf die Schippe. Der 14-jährigen Wendla Bergmann, die nicht mehr an den Klapperstorch glauben will, erklärt die Mutter das Zustandekommen von Kindern mit der romantischen Liebe zu einem Mann. "Man muss ihn so sehr von ganzem Herzen lieben, wie - wie sich's nicht sagen lässt. Man muss ihn lieben, wie du, Wendla, noch gar nicht lieben kannst. Jetzt weißt du's. Jetzt weißt du, welche Prüfung dir noch bevorsteht."1891 soll "Frühlings Erwachen" bei Eugen Albert in München erscheinen. Kurz vor Drucklegung aber kommen dem Verleger Bedenken, die auch ein Rechtsbeistand nicht zerstreut. Im Gegenteil: Der Jurist bestätigt, dass Albert ebenso wie Autor Wedekind mindestens zwei Jahre Gefängnis wegen "Verbreitung unzüchtiger Schriften" drohen. Dabei geht es Wedekind darum, dass Erwachen sexueller Neigungen nicht als psychische Erkrankung wie bisher, sondern als normalste Sache der Welt zu deklarieren. Anders als die Erwachsenen im Stück, die schweigen, stottern, lügen, heucheln und verbieten. Die "Kindertragödie", wie Wedekind sein Drama auch genannt hat, findet in dieser bürgerlichen Doppelmoral der wilhelminischen Gesellschaft ihren Anfang.

In der Folge bringt Wedekind, der auch für die Satirezeitschrift "Simplicissimus" schreibt, das Stück in Teilen auf eigene Kosten heraus. Die Zeit allerdings ist für die "Frühreifen" auf der Bühne noch nicht reif genug. Erst am 20. November 1906, 15 Jahre nach seiner Entstehung, wird "Frühlings Erwachen" von Max Reinhardt in Berlin uraufgeführt. Es ist die Zeit der Reformpädagogik, Sigmund Freud praktiziert bereits. Trotzdem muss das Drama die Vorzensur passieren. Einige Szenen werden gestrichen, das Wort "Beischlaf" ist verboten. Auch Hungergurt, Affenschmalz, Knüppeldick und Fliegentod dürfen respektable Studienräte immer noch nicht heißen. Trotzdem kommt es zum Skandal. In der ersten Reihe hätten junge Damen gesessen, empört sich der "Berliner Lokalanzeiger", ein geistlicher Herr befürchtet, dass "sittliche Verflachung und gemeine Lüsternheit" der Jugend "die Nahrung ihrer unsterblichen Seele" werden könne. Berlins Theaterkritiker aber sind begeistert. Wedekind avanciert zum wichtigsten Dramatiker seiner Zeit.

Stand: 20.11.06