Stichtag

05. Oktober 2006 - Vor 40 Jahren: "Doktor Schiwago" kommt in deutsche Kinos

Kann man aus einem ägyptischen Schönling einen sensiblen russischen Arzt und Dichter machen? Omar Sharif aus Alexandria nimmt die Herausforderung an. Drei Jahre lang lässt er sich alle drei Tage unter Schmerzen mit heißem Wachs einige Zentimeter seines Haaransatzes entfernen, damit die Perücke samt Geheimratsecken besser sitzt. Mit transparentem Pflaster klebt er ein Gummiband an seine Schläfen, um seine Wangenknochen slawischer und seine Augen schmaler wirken zu lassen. Der Aufwand lohnt sich. Bei der US-Premiere des Films im Dezember 1965 nimmt das Kinopublikum Sharif ab, dass er jener verheiratete Doktor Schiwago ist, der sich in den Wirren des Krieges in Russland aussichtslos in eine schöne Krankenschwester verliebt.Überhaupt ist nur wenig Russisches in "Doktor Schiwago". Der britische Regisseur David Lean wird vom italienischen Produzenten Carlo Ponti mit der Umsetzung des Stoffes betraut. In den weiblichen Hauptrollen brillieren mit Julie Christie und der Chaplin-Tochter Geraldine eine britische und eine US-amerikanische Akteurin. Natürlich darf Lean auch nicht in Russland drehen: Die Romanvorlage, für die Boris Pasternak den Nobelpreis erhielt, ist dort verboten. Als sich in Finnland keine Arbeitslosen für Statistenrollen finden, zieht die Filmcrew zum Dreh in die Nähe von Madrid. Hier wird ein zweites Moskau als eine Art Potemkinsches Dorf aus dem Boden gestampft. Sechs Monate lang gießen 1.000 Arbeiter Beton für Bürgersteige und pflastern eine 500 Meter lange Geschäftsstraße. Da sich die Geschichte über vier Jahrzehnte erstreckt, werden die Schaufensterauslagen der über einhundert Läden permanent verändert. 115 Millionen Dollar kostet die Illusion.

Am 5. Oktober 1966 kommt "Doktor Schiwago" in die deutschen Kinos. Die Presse lässt an der Hollywood-Produktion kein gutes Haar. Das "dürftige Gerippe eines Romans" sei die Verfilmung, kritisiert der "Tagesspiegel", Omar Sharif wirke eher wie ein "orientalischer Prinz denn als skeptischer Intellektueller", behauptet die "Morgenpost". Laut "Handelsblatt" ist das Werk "an monströsem Kitsch und edler Langeweile nicht mehr zu überbieten". Das Publikum empfindet anders. Monatelang sind die Großkinos ausverkauft, im Berliner Royalpalast mit Europas größter Leinwand müssen die Vorführer drei volle Jahre lang in Doppelschichten die Filmrollen in den Projektor hieven. Damit hat "Doktor Schiwago" sogar "Vom Winde verweht" übertroffen. Selbst der Schnurrbart erfährt in Deutschland ein Comeback. Statt Mini werden nun wieder wadenlange Kleider und Mäntel mit Pelzkragen modern. Das Filmrussland von "Doktor Schiwago" hat sich in den Köpfen durchgesetzt.

Stand: 05.10.06