Stichtag

07. Dezember 2005 - Vor 35 Jahren: Willy Brandt besucht Warschau

In Warschau ist der Morgen des 7. Dezember 1970 kalt und grau. Zwei Wachposten der polnischen Armee beziehen Position vor dem Mahnmal für die Toten des jüdischen Aufstands gegen SS und Wehrmacht im Warschauer Ghetto. Etwa 300 bis 400 Zuschauer warten auf das Erscheinen von Bundeskanzler Willy Brandt ( SPD), der kurz zuvor bereits einen Kranz am Grabmal des Unbekannten Soldaten niedergelegt hat. Als die Wagenkolonne vorfährt, hat sich bereits eine Gasse für den Kanzler und seine Begleiter aufgetan. Langsam geht Brandt die hundert Schritte an die Stufen des jüdischen Ehrenmals. Als zwei Träger den Kranz niedergelegt haben, ordnet der Kanzler die Schleife, richtet sich auf - und ist plötzlich für die weiter entfernt stehenden Zuschauer nicht mehr sichtbar: Er kniet. Das Bild geht um die Welt."Ich hatte nichts geplant", schreibt Brandt später in seinen Erinnerungen. Er habe das Gefühl gehabt, "die Besonderheit des Gedenkens am Ghetto-Monument zum Ausdruck bringen zu müssen." Im November 1940 hatten die Nazis das Warschauer Ghetto eingerichtet und auf engstem Raum 500.000 jüdische Menschen zusammengepfercht. Ab 1942 wurden die Ghettobewohner in das Vernichtungslager Treblinka abtransportiert. Zu Ostern 1943 begann der Kampf der jüdischen Widerstandgruppen. Kaum einer der Aufständischen überlebte. Das Ghetto wurde niedergebrannt. "Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt."

Am gleichen Tag unterzeichnet Brandt den Warschauer Vertrag über die Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen. Er will damit "einen Schluss-Strich setzen unter Leiden und Opfer einer bösen Vergangenheit". Die Unterzeichnung ist der Höhepunkt von Brandts so genannter Ostpolitik: Die Bundesrepublik anerkennt faktisch Polens West-Grenze, die Oder-Neiße-Linie, und damit auch den Verlust der ehemals deutschen Ostgebiete wie Schlesien oder Pommern. Dies führt nach Brandts Rückkehr zu heftigen Angriffen der christdemokratischen Opposition und der deutschen Vertriebenenverbände. Ihm wird "Verzichtspolitik" vorgeworfen und er wird als "Vaterlandsverräter" beschimpft. Auf einer Demonstration wird skandiert: "Willy Brandt an die Wand, raus aus unserem Vaterland." Der Bundestag ratifiziert den Vertrag mit 248 Ja-Stimmen, 17 Gegenstimmen und 230 Enthaltungen erst eineinhalb Jahre später.


Stand: 07.12.05