Angela Merkel nach Kanzlerwahl am 22.11.2005 im Bundestag

Stichtag

22. November 2005 - Angela Merkel wird zu Bundeskanzlerin gewählt

Wie Millionen in Ost und West verfolgt Angela Merkel am 9. November 1989 im Fernsehen Günter Schabowskis legendäre "Zettel"-Pressekonferenz. Doch wie jeden Donnerstag geht sie auch an diesem Abend in die Sauna. Danach, die Saunatasche noch in der Hand, läuft sie zum Grenzübergang und erlebt mit, wie sich die Mauer öffnet. Das Deutschland drüben kennt die 35-jährige Physikerin nur aus dem West-Fernsehen, obwohl sie 1954 in Hamburg zur Welt kam. Schon kurz nach ihrer Geburt war ihre Mutter Herlind dem Theologen Horst Kasner zurück in dessen Heimat nach Ost-Berlin gefolgt.

Zuhause im uckermärkischen Templin betreibt Pfarrer Kasner eine evangelische Weiterbildungsstätte. Außenseiter seien sie gewesen, sagt die Tochter später, denn bei den Kasners gelten christliche Werte mehr als sozialistische. So geht die stille Einser-Schülerin auch nicht zur Jugendweihe, sondern zur Konfirmation. 1973 beginnt Angela Kasner in Leipzig ein Physik-Studium, 1977 heiratet sie ihren Kommilitonen Ulrich Merkel. Fünf Jahre später lässt Angela Merkel sich wieder scheiden, den Nachnamen aber behält sie.

Weinanfall im Kabinett

Merkel schließt sich weder der SED noch einer der Blockparteien der DDR an. Auch in der Opposition wird sie nicht aktiv; sie schwimmt mit und wartet ab. Acht Jahre nimmt sich Merkel Zeit für ihre Doktorarbeit, drei weitere forscht sie unauffällig am Zentralinstitut für physikalische Chemie in Berlin-Adlershof. Dann fällt die Mauer, und Merkel ist überzeugt, "dass Veränderung etwas Gutes bedeuten kann. Dass man die Möglichkeiten (…) nutzen sollte, und dass das insgesamt immer etwas Gutes für unsere gesamte Gesellschaft bedeutet." Politisch ein unbeschriebenes Blatt, aber fasziniert von den Möglichkeiten des Kapitalismus, startet Angela Merkel im neuen Deutschland ihren Sprint durch die Politinstanzen.

Als Mitglied im "Demokratischen Aufbruch" wird sie Vize-Sprecherin der letzten DDR-Regierung. Sie ist dabei, als in Bonn der Einigungsvertrag unterzeichnet und in Moskau der Zwei-plus-Vier-Vertrag beschlossen wird. Kurz darauf tritt Merkel der CDU bei und stellt sich Helmut Kohl vor. Der Kanzler findet Gefallen an der agilen Nachwuchskraft und überträgt "seinem Mädchen" schon kurz nach Merkels Wahl in den Bundestag das Familienministerium. Als sie 1994 Umweltministerin wird, ist ihre Schonfrist vorbei. Im Kabinett bekommt sie, so erzählt Merkel später, einen Weinanfall, weil Kohl ihr geplantes Sommer-Smog-Gesetz ablehnt. Die Jungministerin muss Lehrgeld zahlen, die CDU und Westdeutschland sind Neuland für sie. Umgekehrt zweifeln auch die Christdemokraten an der Kompetenz der unerfahrenen Ost-Frau, ein Parteifreund beschimpft sie gar als "Zonenwachtel".

Spendenaffäre als Karrierebeschleuniger

Doch die in eine tiefe Krise geratene CDU braucht die nervenstarke, von Stasi-Vorwürfen unbelastete Ostdeutsche. 1998 wird Kohl nach 16 Jahren Kanzlerschaft abgewählt. Wolfgang Schäuble als neuer Parteichef macht Merkel zu seiner Generalsekretärin. In zweiter Ehe heiratet sie nun den Chemiker Joachim Sauer. 1999 kommt Kohls Spendenaffäre ans Licht, und es ist Angela Merkel, die den selbstherrlichen "Kanzler der Einheit" vom Thron stürzt. Als auch Schäuble im Spendensumpf versinkt, wählt die CDU sie 2000 zur neuen Parteichefin. Zäh und mit ausgeprägtem Machtinstinkt nimmt Merkel nun den finalen Karriereschritt ins Visier. "Mal bin ich liberal, mal konservativ, mal bin ich christlich-sozial, und das macht die CDU aus", definiert sie ihren Kurs aufs Kanzleramt.

Scharf beobachtet Merkel, wie SPD-Kanzler Gerhard Schröder mit seiner Agenda 2010 an Rückhalt verliert. Ihre eigenen Umfragewerte dagegen steigen ständig. Doch bei der Bundestagswahl 2005 liegt die CDU nur einen Prozentpunkt vor der SPD, und Schröder höhnt in der TV-Wahlrunde: "Glauben Sie im Ernst, dass meine Partei auf ein Gesprächsangebot von Frau Merkel bei dieser Sachlage eingeht, indem sie sagt, sie will Bundeskanzlerin werden?" Schröder irrt gewaltig: Am 22. November 2005 wählen 397 Abgeordnete bei 202 Gegenstimmen und zwölf Enthaltungen Angela Merkel zu seiner Nachfolgerin. 56 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik und 15 Jahre nach der Einheit steht zum ersten Mal eine Frau an der Spitze der deutschen Regierung.

Stand: 22.11.2015

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