Fluchttunnel unter der Berliner Mauer

3. Oktober 1964 - Viele Ostdeutsche flüchten durch den Tunnel 57

Stand: 03.10.2019, 00:00 Uhr

Wer das Codewort Tokio sagt, darf in der Strelitzer Straße in Ostberlin eine kleine Bude im Hof betreten, ein still gelegtes Toilettenhäuschen. Von dort geht es zwölf Meter nach unten in einen Tunnel. Am Abend des 3. Oktober 1964 kriechen die ersten Menschen von Ostberlin nach Westberlin – 145 Meter durch einen Gang, der im Schnitt zwischen 60 und 90 Zentimetern hoch und breit ist. Es sind die ersten von insgesamt 57 Ostdeutschen, denen am 3. und 4. Oktober 1964 die Flucht gelingt.

Der Fluchttunnel 57 wird fertig (am 03.10.1964)

WDR 2 Stichtag 03.10.2019 04:16 Min. Verfügbar bis 30.09.2029 WDR 2


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145 Meter Angst, Zweifel und Hoffnung

"Bei dem Tunnel 57 gab es natürlich große Freuden. Familienangehörige wurden schon erwartet. Wieder andere wussten nicht genau, ob das vielleicht eine Falle der Stasi war. Da gab es berührende und bewegende Szenen", sagt Klaus-Michael von Keussler, einer der Fluchthelfer. Er ist damals 23 Jahre alt, wohnt in Westberlin und half, den Tunnel zu graben.

"Den Tunnel und den Stollen hatten wir beleuchtet: Wir hatten im Abstand von einem Meter 40-Watt-Lampen aufgehängt, die aufgrund der Feuchtigkeit auch mal platzten", erinnert sich von Keussler.

Wenn die Flüchtenden nach 145 Metern Angst, Zweifeln und Hoffnung wieder ans Tageslicht klettern, stehen sie in der gleichen Stadt. Nur die Mauer sieht von der Westseite anders aus.

Ein Unteroffizier wird beim Schusswechsel tödlich getroffen

Doch die Erfolgsgeschichte endet bereits einen Tag später, als der Tunnel gegen Mitternacht von zwei Stasi-Mitarbeitern in zivil entdeckt wird. Es kommt zu einem Schusswechsel zwischen den herbeigerufenen Grenztruppen und den Fluchthelfern – der Unteroffizier Egon Schultz wird tödlich getroffen.

In der DDR beginnt eine Propagandaschlacht. Auf der Staatstrauerfeier für den toten Grenzsoldaten sagt Erich Honecker, Mitglied des Zentralkomitees der SED: "Wir klagen ein System an, dass den Mord zur politischen Waffe macht, wir klagen die Handlanger an, die der Strafe nicht entgehen werden." Honecker lässt keinen Zweifel: Der 21-jährige Unteroffizier soll von Westberliner Terroristen heimtückisch ermordet worden sein.

Kurz nach Schultz‘ Tod findet an der Berliner Charité eine mehrstündige Obduktion der Leiche statt. Das eindeutige Ergebnis: Die unmittelbare Todesursache waren Schüsse aus einer Kalaschnikow, nicht die Schüsse eines Fluchthelfers. Die eigenen Grenzsoldaten hatten Egon Schultz also durch Querschläger versehentlich getötet.

Das Protokoll der Obduktion verschwindet im Archiv der Staatssicherheit – und taucht erst Jahrzehnte später wieder auf. Bis zuletzt hält die DDR an der Propagandalüge fest.

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