Im Jahr 1541 - Deutscher Michel erstmals schriftlich erwähnt

Stand: 31.12.2016, 00:00 Uhr

Jede Menge nacktes Fleisch wölbe sich ihm entgegen, klagt ein Autor der Zeitung "Die Welt" im heißen Sommer 2013. Seine dunkle Ahnung angesichts luftig bekleideter Massen: "Der deutsche Michel wird immer geschmackloser."

Ein Kommentator der "Wirtschaftswoche" sagt voraus, die Energiewende werde scheitern und fragt besorgt: "Der deutsche Michel zahlt?" Schwarz-Rot-Gold gewandet reitet derselbe Michel in einer Karikatur auf Angela Merkel und gibt der Bundeskanzlerin Peitschenhiebe aufs Hinterteil. Der deutsche Michel – wer ist diese offenbar so vielseitige Figur mit der obligaten Schlafmütze?

Geboren als trunksüchtiger Trottel vom Land

Der Literaturwissenschaftler und Karikaturen-Forscher Karl Riha ist dieser Frage nachgegangen. Seine Kulturrecherche kommt zu einem diffusen Ergebnis: "Wofür der Michel eigentlich steht, ist so einfach nicht zu definieren." Wie Amerikas Uncle Sam, Englands John Bull und die französische Marianne gilt der Michel als nationale Personifikation der Deutschen. Doch sein Charakter wandelt sich seit 475 Jahren ständig im Spiegel der Zeiten.

Ein deutscher Nationalstaat ist noch blanke Utopie, als der Chronist Sebastian Franck 1541 den deutschen Michel erstmals erwähnt. In seinem Buch "Sprichwörter/Schöne/Weise Klugredenn" schildert er den "teutsch Michel" als tumben Bauern und Dummerjan, als trunk- und schlafsüchtigen Provinzler, der keine Sprache spricht außer der eigenen, erst recht kein gelehrtes Latein.

Kühner Recke im Dreißigjährigen Krieg

Ausländische Reisende übertragen Michels Charakterbild auf alle Deutschen. "Schlaftrunkene, blöde, schnarchende Geschöpfe sind es, niemals nüchtern", hat der italienische Gesandte Gian Francesco Poggio schon im 15. Jahrhundert festgestellt. "Ob sie leben oder todt sind, kann man nicht unterscheiden, wenn sie von Wein und Speise überwältigt daliegen." Im Dreißigjährigen Krieg erfährt das Michel-Bild eine gründliche Veränderung vom einfältigen Spießer zum tüchtigen, tapferen Recken.

Verantwortlich für den Imagewandel soll Hans-Michel von Oberntraut aus dem Hunsrück sein. Der kühne Protestanten-Oberst habe die spanischen Söldner des Feldherrn Tilly als "Miguel Aleman", als "deutscher Michel", das Fürchten gelehrt, heißt es. Nach einer Schlacht soll er den Harnisch am liebsten gegen die gemütliche heimische Tracht mit blauer Zipfelmütze getauscht haben. Während der Revolution von 1848 trägt der deutsche Michel dann in Zeitungskarikaturen statt Schlafmütze einen Helm oder die Jakobinermütze.

Der Michel - Ein deutscher Typ für jede Zeit

Doch die 48er-Revoluzzer scheitern und der Dichter Heinrich Heine spottet: "Derweil der Michel, geduldig und gut, begann zu schnarchen und schlafen. Und wieder erwachte unter der Hut von 34 Monarchen." Das 20. Jahrhundert verleiht dem deutschen Michel germanische Züge; Hermann der Cherusker lässt grüßen. Als gestählter blonder Jüngling mit Zipfelmütze zieht er im Ersten Weltkrieg gegen Deutschlands Feinde. Nach dem verlorenen Krieg und dem Versailler Vertrag wird der deutsche Michel als dummer Pechvogel zur Spottfigur.

Die Nazis machen mit ihm kurzen Prozess. "Es sollte nicht mehr vorkommen, dass als Sinnbild des heutigen Deutschen die Vorkriegsfigur des zwar kräftigen, aber gutmütigen und etwas dämlichen deutschen Michels erscheint", verordnet 1936 ein Anti-Michel-Erlass. Doch die deutsche Symbolfigur ist nicht tot zu kriegen Mit chamäleonartiger Wandlungsfähigkeit übersteht sie das Dritte Reich, den Kalten Krieg und auch die deutsche Einheit. Der Michel bleibt, was er immer war: ein deutscher Typ für jede Zeit.

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