Willy Brandt in Warschau

Stichtag

7. Dezember 1970 - Willy Brandt besucht Warschau

Am Warschauer Flughafen wird am 7. Dezember 1970 die bundesdeutsche Nationalhymne gespielt. Es ist ein historischer Moment: Gut 25 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs betritt zum ersten Mal ein deutscher Bundeskanzler polnisches Territorium. Willy Brandt (SPD) und sein Außenminister Walter Scheel (FDP) kommen zum Staatsbesuch, um den Warschauer Vertrag zu unterschreiben. Ziel ist die Normalisierung der deutsch-polnischen Beziehungen. "Der Vertrag von Warschau soll einen Schlussstrich setzen unter Leiden und Opfer einer bösen Vergangenheit", sagt Brandt. Bisher haben die Deutschen die Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen gescheut und die Polen die anschließende Vertreibung geleugnet.

Der Staatsbesuch beginnt mit Protokollterminen. Zunächst legt Brandt am Denkmal für den unbekannten Soldaten einen Kranz nieder. Danach fährt der Konvoi zum Ehrenmal für die im Warschauer Ghetto ermordeten Juden. ARD-Reporter Peter Schnell berichtet live: "Der Kanzler rückt jetzt die schwarz-rot-goldene Schleife an dem Kranz zurecht und verharrt dann schweigend vor dem Denkmal."

Oder-Neiße-Linie als Grenze bestätigt

Die Blicke sind auf Brandt gerichtet. "Plötzlich wurde es ganz still", erinnert sich Egon Bahr (SPD), Staatssekretär im Kanzleramt. Ein Gedränge entsteht. "Als wir rankamen und fragten, was ist denn los, sagte einer, der sich umdrehte: 'Er kniet!'" Die Bilder von Brandts Kniefall auf den Steinstufen des Denkmals gehen um die Welt. Nur ein Kranz habe angesichts der Nazi-Verbrechen nicht gereicht, sagt Brandts Kanzleramtschef Horst Ehmke (SPD): "Er hat mir das so erklärt: 'Für das, was man da hätte sagen müssen, gab es gar keine Worte. Und so ist mir diese alte Geste der Menschheit eingefallen: Knie dich schweigend hin.'"

Nach der Kranzniederlegung wird im Radziwill-Palais der Warschauer Vertrag unterzeichnet: "Die Vertragspartner bekräftigen die Unverletzlichkeit ihrer bestehenden Grenzen." Bereits im August 1970 hatte Brandt mit Scheel in Moskau den Deutsch-Sowjetischen Vertrag unterzeichnet, in dem die Oder-Neiße-Linie als polnische Westgrenze anerkannt wurde. Im Warschauer Vertrag wird ausdrücklich auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete verzichtet. Die Bundesrepublik und Polen erklären, "dass sie gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche haben und solche auch in Zukunft nicht erheben werden."

Friedensnobelpreis für Brandt

Die CDU/CSU-Opposition und die Vertriebenenverbände wehren sich heftig gegen den Warschauer Vertrag. Brandt wird "Verzichtspolitik" vorgeworfen und er wird als "Vaterlandsverräter" beschimpft. Auf einer Demonstration wird skandiert: "Willy Brandt an die Wand, raus aus unserem Vaterland!" Brandts Kniefall ist ebenfalls höchst umstritten. Der "Spiegel" veröffentlicht am 14. Dezember 1970 die Ergebnisse einer von ihm in Auftrag gegebenen Umfrage: "Für angemessen halten das Verhalten Brandts am Ghetto-Ehrenmal 41 Prozent der Befragten, als übertrieben bezeichnen es 48 Prozent."

Der Warschauer Vertrag wird dennoch vom Bundestag im Mai 1972 ratifiziert - mit 248 Ja-Stimmen, 17 Gegenstimmen und 230 Enthaltungen. Bereits im Herbst 1971 hat Brandt für seine Ostpolitik und den Kniefall den Friedensnobelpreis erhalten. Über die Demutsgeste sagt Brandt später: "Der Kniefall von Warschau, den man in der ganzen Welt zur Kenntnis nahm, war nicht geplant. Unter der Last der jüngsten Geschichte tat ich, was Menschen tun, wenn die Worte versagen." Er habe dabei der Millionen Ermordeten gedacht. Zudem habe er daran gedacht, "dass Fanatismus und Unterdrückung der Menschenrechte trotz Auschwitz kein Ende gefunden haben."

Stand: 07.12.2015

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