Störfall im Atomkraftwerk Biblis

Stichtag

16. Dezember 1987 - Störfall im Atomkraftwerk Biblis

Stand: 16.12.2012, 00:00 Uhr

Als Hessens einziges Atomkraftwerk, die Großmeiler Biblis A und B, im August 2011 für immer abgeschaltet wird, haben viele Menschen aufgeatmet. Biblis A und B sind bei ihrer Inbetriebnahme 1974 und 1976 die größten Atomkraftwerke der Welt. Doch seit einem Störfall am 16. und 17. Dezember 1987 ist die Sicherheit der Anlage umstritten.

Mitarbeiter übersehen rote Warnlampe - oder ignorieren sie

Die Öffentlichkeit erfährt erst ein Jahr später aus dem US-amerikanischen Fachblatt "Nucleonics Week" von dem Vorfall mit dem klemmenden Ventil. Nach einem Stillstand fährt die Bedienungsmannschaft im Dezember 1987 den Reaktor Biblis A wieder an. Doch eines von zwei hintereinander liegenden Ventilen in der Notkühlleitung schließt nicht. Damit keine Radioaktivität in die Umwelt gelangt, müsste der Reaktor sofort wieder abgeschaltet werden. Aber die Mitarbeiter übersehen oder ignorieren die rote Warnlampe. Auch die Mannschaft der folgenden Schicht reagiert nicht, erst jene der dritten bemerkt den Fehler – und versucht einen riskanten Trick.

Radioaktiver Dampf schießt aus dem Überdruckventil

Um das klemmende Ventil zu lockern, wird ein paralleles Ventil in einer Prüfleitung ganz kurz und leicht geöffnet - gegen jede Sicherheitsvorschrift, denn Ventil und Prüfleitung sind nicht für den enorm hohen Druck von 150 Atmosphären ausgelegt. Prompt schießt aus einem Überdruckventil radioaktiver Dampf in den Raum außerhalb des Sicherheitsbehälters. Doch die Mannschaft hat Glück: Das Ventil der Prüfleitung schließt wieder, und die Leitung selbst hält dem Druck stand. Sonst wäre passiert, was alle Sicherheitssysteme vermeiden helfen sollen: Der hochradioaktive Reaktorkern hätte Verbindung zur Außenwelt gehabt und seine Kühlung verloren. Eine Kernschmelze hätte die Folge sein können. Nur die zuständigen Behörden werden informiert: Es habe ein Vorkommnis der niedrigsten Stufe "N" gegeben, "N" für "Normal". Misstrauische Beamte forschen nach, der Fall wird prompt auf "E" wie "Eilt" hochgestuft.

"Den absolut sicheren Reaktor gibt es nicht"

"Weder ist die Technik wirklich perfekt – es gibt Schwachstellen –, noch sind die Menschen perfekt, die mit der Technik umgehen. Dieses Zusammenspiel führt dazu, dass große Unfälle passieren können und passiert sind. Ein Supergau kann selbstverständlich bei jedem Reaktor passieren. Den absolut sicheren Reaktor gibt es nicht, das ist in der Fachwelt auch nicht umstritten", erklärt Klaus Traube, vormals Manager in der Atomindustrie und heute Kritiker der Kernenergie. Der RWE-Chef Günther Klätte beschwichtigt damals: "Was in Biblis eingetreten ist, war auch für uns neu, wurde aber von der Anlage gemeistert." Der Reaktorexperte Lothar Hahn, viele Jahre Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit, meint jedoch: "Letztes Jahr in Biblis haben wir sagenhaftes Glück gehabt."

Störfälle sind bereits vor Biblis aufgetreten: 1986 explodiert Reaktor 4 in Tschernobyl, Sowjetunion; in den USA schmilzt 1979 bei einem Unfall im AKW Harrisburg ein Drittel des Reaktorkerns im Block 2; in Großbritannien brennt 1957 Block 1 im AKW Windscale, heute Sellafield.

Alles ändert sich nach Fukushima

Noch 2010 verlängert die schwarz-gelbe Bundesregierung die Laufzeiten der beiden Reaktoren Biblis A und B – bis sie im März 2011 nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima ihre Meinung ändert. "In Fukushima haben wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass selbst in einem Hochtechnologieland wie Japan die Risiken der Kernenergie nicht sicher beherrscht werden können. Wer das erkennt, … muss eine neue Bewertung vornehmen", erklärt Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) im Bundestag. Biblis A und B und sechs weitere Kernreaktoren werden zum 6. August 2011 in Deutschland abgeschaltet. Der Rückbau hat teilweise begonnen.

Stand: 16.12.2012

Programmtipps:

Auf WDR 2 können Sie den Stichtag immer gegen 9.40 Uhr hören. Wiederholung: von Montag bis Freitag gegen 17.40 Uhr und am Samstag um 18.40 Uhr. Der Stichtag ist nach der Ausstrahlung als Podcast abrufbar.

"ZeitZeichen" auf WDR 5 (9.05 Uhr) und WDR 3 (17.45 Uhr) erinnert am 16. Dezember 2012 ebenfalls an den Störfall im Atomkraftwerk Biblis. Auch das "ZeitZeichen" gibt es als Podcast.