Papst Paul VI. bei Rede vor der UNO, 1965

Stichtag

28. Oktober 1965 - Der Vatikan verkündet die Erklärung "Nostra Aetate"

Als erster Papst der vatikanischen Geschichte reist Paul VI. 1964 nach Israel. Ausgerechnet in den jüdischen Staat, in dem die Hardliner der Kurie noch immer das "Reich des Bösen" sehen. Seit ihrem Bestehen verdammt die römisch-katholische Kirche die Juden als Gottesmörder; am Karfreitag wird für das Seelenheil der treulosen Jesus-Kreuziger gebetet. Mit seinem Besuch im Heiligen Land erkennt Paul VI. Israel nun faktisch an - eine historische Geste, vor allem an die versammelte Weltkirche in Rom.

Dort tagt seit Oktober 1962 das Zweite Vatikanische Konzil. Einberufen wurde es von Johannes XXIII., der die in mittelalterlich feudalen Dogmen erstarrte Kirche in die Gegenwart führen wollte. Doch seit dem Tod von Johannes XXIII. acht Monate nach der Konzilseröffnung steht die Reformfraktion unter den 3.000 in Rom versammelten Kirchenfürsten unter Druck. Mit allen Mitteln versuchen erzkonservative Kardinäle, das von Johannes eingeleitete "aggiornamento", die Erneuerung der Kirche, von der Agenda des Konzils zu tilgen.

Hinausblicken auf andere Religionen

Kein Thema bewegt Konzilsteilnehmer und Gläubige in aller Welt mehr als die sogenannte "Judenerklärung". Sie berührt das Selbstverständnis der Kirche in ihren Grundfesten. "Denn bis zum Konzil hat die römisch-katholische Kirche von sich als allein heilige und seligmachende gesprochen", sagt der Kölner Theologe Thomas Lemmen. "Man sprach von einem exklusiven Absolutheitsanspruch." Der neue Papst Paul VI. bestätigt in seiner Eröffnungsrede den Reformkurs seines Vorgängers; die Kirche wolle "über die Grenzen des Christentums hinausblicken. Hinaus auf die anderen Religionen, um ihnen zu sagen, dass die katholische Religion dem mit Hochachtung begegnet, was sie an Wahrem und Heiligem bei ihnen findet."

Hinter den Kulissen des Konzils aber tobt ein erbitterter Kampf um die Abkehr vom Alleinvertretungsanspruch und einer Absage an den Antisemitismus. Während erzkonservative Kardinäle judenfeindliche Pamphlete in Umlauf bringen, verhandeln die Befürworter insgeheim mit jüdischen und islamischen Autoritäten. Denn auch in der arabischen Welt sorgt das Judendekret für Aufregung. Es wird als Parteinahme Roms zugunsten Israels und zu Lasten der Palästinenser aufgefasst. Als auch orthodoxe und orientalische Christen ihre Zustimmung verweigern, verschwindet die Judenerklärung zunächst aus den Konzilsberatungen.

Überwältigende Mehrheit der Reformer

Zurück aus Israel und vom Eucharistischen Weltkongress in Indien bringt Paul VI. die Verhandlungen wieder in Gang, indem er sie auf alle monotheistischen Weltreligionen ausweitet. Am endgültigen Text feilen unter anderem die Kardinäle Franz König aus Wien und Josef Frings aus Köln sowie die Theologen Karl Rahner, Hans Küng und Josef Ratzinger. Am 28. Oktober 1965 stimmt die überwältigende Mehrheit des Konzils der "Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen" zu. Bekannt wird das kirchen- wie weltpolitisch revolutionäre Dokument unter seinen beiden ersten Worten: "Nostra Aetate – In unserer Zeit".

Das Zweite Vatikanische Konzil verabschiedet insgesamt 16 Dokumente, mit denen sich die römisch-katholische Kirche grundlegend wandelt. So werden Messen ab sofort statt in Latein in der Landessprache gelesen; dabei wenden die Priester den Gläubigen nicht mehr den Rücken zu. Die Trennung von Staat und Kirche wird ebenso anerkannt wie die Religions- und Meinungsfreiheit. Und schließlich die Erklärung, in der die Papstkirche den Antisemitismus verurteilt und Judentum, Islam, Buddhismus und Hinduismus als gleichwertige Religionen respektiert. Mit "Nostra Aetate" beginnt die Kirche erstmals in ihrer Geschichte den interreligiösen Dialog auf Augenhöhe mit allen Gläubigen der Welt.

Stand: 28.10.2015

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