Hebamme misst Bauchumfang einer Schwangeren

Stichtag

22. September 1890 - Erster preußischer Hebammentag

"Wir wollen geehrt und geachtet werden - von dem einfachsten Arbeiter bis hinauf zu den höchsten Würdenträgern. Denn wir sind uns bewusst, dass wir unentbehrlich sind in diesem Staate!" So ruft die Hebamme Olga Gebauer beim ersten preußischen Hebammentag am 22. September 1890 ihren Kolleginnen zu. Mehr als 900 Geburtshelferinnen sind in Berlin zusammengekommen, um ihre schwierige Lage zu diskutieren. Die Industrialisierung hat viele verarmte Arbeiterfamilien hervor gebracht, die kaum in der Lage sind, eine Hebamme ordentlich zu bezahlen.

Außerdem fehlt jede soziale Absicherung für die Geburtshelferinnen. Viele müssen bis ins hohe Alter arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. "Daher war ein zentrales Anliegen die Schaffung eigener Kranken-, Hilfs- und Sterbekassen", erklärt Ute Lange, Professorin für Hebammenwissenschaft an der Bochumer Hochschule für Gesundheit.

Hebamme oder Hexenamme?

Obwohl Hebammen zu den ältesten Berufen überhaupt zählen, kämpfen sie seit jeher um gesellschaftliche Anerkennung. Ihr Wissen über Geburt und Tod, von Schmerz und Sexualität macht sie im Mittelalter für viele verdächtig. Auch die katholische Kirche setzt die Hebammen unter Druck: "Sie sollten das lebend geborene Kind möglichst schnell taufen oder den Kopf taufen, wenn es tot geboren war, bevor es ganz da war, um es vor dem Teufel zu retten", so Lange.

Doch wer der Kirche nicht genehm ist - eine Hebamme etwa, die auch Abtreibungen vornimmt -, wird als Hexenamme verunglimpft und landet auf dem Scheiterhaufen. "Schon eine schlecht verlaufende Geburt oder ein missgebildetes Kind konnte den Verdacht nach sich ziehen, solch eine Hexenamme zu sein", erläutert Lange. In der Neuzeit bringt die Medizin die Hebammen in Bedrängnis. Da die Geburtshilfe seit 1850 ein Pflichtfach für Ärzte ist, gerät das seit Jahrhunderten weitergebene Wissen der Hebammen in Misskredit.

Was sind Hebammen wert?

So geht es beim ersten Hebammentag auch darum, wer das Sagen im Kreißsaal oder Geburtszimmer hat. Bis heute streiten Hebammen und Ärzte darüber, was unter der Geburt notwendig, was hilfreich, was überflüssig oder gar fahrlässig ist. Eins aber haben alle Beteiligten gemeinsam: Mehr denn je fürchten sie, nach Komplikationen vor Gericht zu landen.

Diese Klagebereitschaft sorgt dafür, dass die für Hebammen verpflichtende Berufshaftpflichtversicherung heute mehrere Tausend Euro pro Jahr kostet. Das Honorar der Geburtshelferinnen liegt aber - selbst ohne die Kosten für die Versicherung - nur knapp über Mindestlohn. Viele Hebammen geben deshalb ihren Beruf auf, in manchen Orten finden Schwangere kaum noch jemand, der sie vor und nach der Geburt betreut. Die Frage, was Hebammen einer Gesellschaft wert sind, ist heute noch genauso drängend wie beim ersten Hebammentag.

Stand: 22.09.2015

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