Die Ruine des Anhalter Bahnhofs an der Stresemannstraße in Berlin (Aufnahme vom  02.02.2015)

Stichtag

15. Juni 1880 - Anhalter Bahnhof in Berlin eröffnet

Der erste Anhalter Bahnhof wird in Berlin 1841 eingeweiht: Die Züge der Berlin-Anhaltischen Eisenbahngesellschaft (BAE) fahren in Richtung Dessau, der Hauptstadt des damaligen Herzogtums Anhalt. Da der Bahnverkehr stetig zunimmt, wird das Gebäude mehrmals erweitert. Nach einer mehrjährigen Planungsphase lässt die BAE schließlich den Bahnhof 1875 abreißen und komplett neu bauen. Er soll Prunkstück und Visitenkarte des vier Jahre zuvor gegründeten Kaiserreichs werden. "Die Bahngesellschaften waren in der Gründerzeit, also in der Zeit nach 1871, nach dem Sieg über Frankreich, so wohlhabend, dass sich alle einen neuen Anzug, einen neuen Bahnhof leisten konnten", sagt Alfred Gottwaldt, viele Jahre Leiter der Abteilung Schienenverkehr im Deutschen Technikmuseum Berlin.

Entworfen wird der neue Anhalter Bahnhof von dem gebürtigen Kölner Architekten Franz Heinrich Schwechten. Er plant riesige Dimensionen. Allein die lichtdurchflutete Bahnhofshalle ist 170 Meter lang und über 60 Meter breit. "Das Dach überspannt frei und ohne jede Unterstützung einen Raum von 10.200 Quadratmeter, sodass sich gleichzeitig 40.000 Menschen darunter aufhalten können", schreibt das Berliner "Wochenblatt für Architekten und Ingenieure" 1880. "Die Halle misst bis zum First 34,25 Meter und ist die höchste der Welt." Um den Straßenverkehr nicht zu stören, werden alle Gleise vier Meter über dem Straßenniveau verlegt. Der Eingangsbereich ist reich verziert, mehrere Zimmer sind exklusiv für den Kaiser reserviert.

"Tor zum Süden"

Eröffnet wird der neue Anhalter Bahnhof am 15. Juni 1880. Um 5.40 Uhr verlässt der erste Zug die Halle in Richtung Lichterfelde. Mehr als 2.000 Schaulustige bevölkern die Bahnsteige. Der Neubau wird schon bald das "Tor zum Süden" genannt. Er ist die wichtigste Verbindung nach Österreich-Ungarn, Italien und Frankreich. Wer es sich leisten kann, fährt von hier aus in den Urlaub - nach Mailand oder an die Côte d'Azur.

Der Askanische Platz vor dem Bahnhof ist einer der teuersten Plätze der Stadt. Mehrere Nobelhotels wie das "Excelsior" haben hier ihren Sitz. Dessen Betreiber ruht nicht eher, so Historiker Gottwaldt, bis "auch ein unterirdischer Tunnel mit einem großen Messingtor in der Halle des Anhalter Bahnhofs errichtet war, wo seine Gäste direkt in ein Foyer des Hotel 'Excelsior' gehen konnten." Das Bauwerk in der Mitte Berlins ist so repräsentativ, dass darin auch Staatsgäste empfangen werden. Kaiser Wilhelm II. begrüßt unter anderem den russischen Zaren und den König von Italien.

Ruine gesprengt und abgetragen

Im Ersten Weltkrieg wird der Anhalter Bahnhof für Kriegszwecke umfunktioniert. Von hier aus starten Truppentransporte an die Front. Am 7. November 1926 trifft Joseph Goebbels aus Elberfeld kommend am Anhalter Bahnhof ein. Eine jubelnde Menge wartet auf ihn. Er soll auf Adolf Hitlers Wunsch die Leitung des Gaues Berlin-Brandenburg der NSDAP übernehmen. Im Zweiten Weltkrieg empfangen die Nazi-Größen am Bahnsteig die Freunde des "Dritten Reiches" - wie etwa 1941 Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop seinen japanischen Amtskollegen. Ab 1942 werden vom Anhalter Bahnhof rund 10.000 Juden deportiert. Die Züge fahren in Richtung Theresienstadt. Im Februar 1945 wird das Gebäude bei einem Luftangriff schwer beschädigt. Nur die vier Hallenwände bleiben stehen.

Nach Kriegsende führt die Teilung der Stadt dazu, dass der Bahnhof seine zentrale Bedeutung verliert. Die sowjetischen Besatzer und später die DDR-Machthaber setzen auf einen neuen Verkehrsknotenpunkt: den heutigen Ostbahnhof. Deshalb müssen alle Züge dorthin umgeleitet werden. Im Mai 1952 wird der Zugverkehr komplett eingestellt. Trotz Bürgerprotesten werden die Reste des Anhalter Bahnhofs zwischen 1959 und 1962 gesprengt und abgetragen. Übrig geblieben ist nur ein Fragment, ein Teil des Eingangs, der bis heute an den einst größten Bahnhof Berlins erinnert.

Stand: 15.06.2015

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