Polen war immer das Sorgenkind der EU: zu konservativ, zu katholisch, zu ... polnisch. Schon allein wie sie mit Abtreibung umgehen – respektive nicht umgehen: Keine Abtreibung für niemand. Die Berichterstattung über unser Nachbarland hat oft den Charme, als würden wir über eine Bananenrepublik reden, nur ohne Bananen und dafür mit Frauenfeindlichkeit und Fremdenfeindlichkeit.
Polen: Puffer gegen Putin
Und plötzlich sind die Polen die Musterschüler der EU, die uns allen vormachen, wie Willkommenskultur für Geflüchteten aussehen kann. Wenn diese Geflüchteten aus der Ukraine kommen. Und keine Abtreibung wollen, die natürlich auch ukrainischen Schwangeren verwehrt wird.
Aber darüber reden wir momentan nur hinter vorgehaltener Hand, weil wir Polen als Puffer gegen Putin brauchen.
Doch auch über Geschichte reden wir nicht. (Wer weiß beispielsweise, dass Polen bis 1993 eine der progressivsten Abtreibungsgesetzgebungen Europas hatte?)
Wir sollten unseren kolonialistischen Blick auf Polen korrigieren
Dabei haben wir eine Menge gemeinsamer Geschichte und ein großer Teil davon ist Kolonialgeschichte. Bloß nennen wir sie nicht so. Wir stellen uns Kolonialismus ja immer so vor: Hier sind wir und da sind die Kolonien und dazwischen liegt eine Menge Meer. Während zwischen Polen und uns nur eine Grenze liegt, hinter der in meinen alten Brockhaus-Atlas noch steht: Zur Zeit unter polnischer Verwaltung.
Es ist bekannt, dass die Nazis einen großen Teil ihrer Verbrechen lieber nach Polen auslagerten und dort ihre größte Konzentrationslager bauten. Doch davor setzte auch schon das deutsche Kaiserreich auf koloniale Expansion nach Osteuropa und prägte dabei viele unserer Stereotype über Polen: Wie viele Polen braucht man, um eine Glühbirne auszuwechseln? Hej, die Glühbirne wurde geklaut. Haha.
Wir müssen endlich anfangen, uns mit dieser kolonialen Vergangenheit auseinanderzusetzen, schließlich leben Polen nicht nur in Polen, sondern eben auch hier. Wir sind aufs Intimste miteinander verbunden und dann muss dieses Verhältnis auf Augenhöhe stattfinden.
Das heißt nicht, dass ich alles toll finde, was die aktuelle Regierung in Polen macht, ich finde eine Menge davon sogar ziemlich schrecklich, aber wir können nur ernsthaft über politische Probleme reden, wenn wir dabei nicht gleichzeitig chauvinistische Stereotype reproduzieren.
Redaktion: Kerstin Steinbrecher