
Wie können Ihrer Ansicht nach Gesellschaften die Vergangenheit bewältigen?
Wie kann Unrecht, das im Krieg oder in einer Diktatur begangen wurde, von der Gesellschaft konstruktiv aufgearbeitet werden? Thema der "Transitional Justice", die auch philosophische Grundfragen aufwirft. Zum Beispiel die, wie eine gerechte Bewältigung der Vergangenheit gelingen kann.
"Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?" Dieser Vortrag, den der Philosoph Theodor W. Adorno im Jahr 1959 hielt, ist ein Vorläufer der Transitional Justice. Mit Blick auf die NS-Vergangenheit verwies Adorno auf Aufklärung und Erziehung einer "demokratischen Pädagogik", die dem Vergessen entgegen wirken soll.

Der Philosoph Frank Haldemann
Der Begriff der Transitional Justice entstand in den 1980er und 1990er Jahren im Zuge von Demokratisierungsprozessen in Ländern wie Argentinien, Peru oder Südafrika. Der Begriff Vergangenheitsarbeit passt im Deutschen am ehesten; es geht um alle Maßnahmen und Prozesse, also nicht ausschließlich die rechtlichen, die das Ziel haben, das im Krieg oder in der Diktatur geschehene Unrecht aufzuarbeiten.
Schon der Begriff, so der Philosoph Frank Haldemann, weist auf das Spannungsfeld hin, dass hier herrscht: Einerseits geht es darum, die Vergangenheit aufzuarbeiten und den Opfern politischer Gewalt gegenüber Gerechtigkeit zum Zuge kommen zu lassen; andererseits muss aber auch der demokratische Übergang auf Dauer gesichert werden, was mitunter – moralisch schwierige – Zugeständnisse und Kompromisse nötig macht.
Insbesondere durch die Arbeit der Wahrheitskommissionen in Südafrika hat sich ein Weg der Transitional Justice durchgesetzt, das Frank Haldemann das "normale Modell" nennt. Dieses Modell ist sehr von westlichen Rechtspraktiken und Fairnessvorstellungen geprägt. Frank Haldemann schlägt demgegenüber eine pluralistischere Transitional Justice vor, die mehr kulturelle Diversität beinhaltet, indem sie lokale Rechtsstrukturen und Erinnerungs-/Aufarbeitungsweisen stärker berücksichtigt.
Wie kann eine Gesellschaft den Opfern von gesellschaftlicher Willkür gerecht werden? Sind Kompromisse legitim, auch wenn damit Ungerechtigkeiten einher gehen? Wie stehen Sie zur Vergangenheitsbewältigung?
Hörer:innen können mitdiskutieren unter 0800 5678 555 oder per Mail unter philo@wdr.de.
Redaktion: Gundi Große