
"Wo vielleicht das Leben wartet" von Gusel Jachina
Stand: 16.08.2022, 20:09 Uhr
Zuversicht in aussichtsloser Lage: Mit ihrem dritten Roman setzt sich Gusel Jachina mit einem düsteren, fast vergessenen Kapitel der jungen Sowjetunion auseinander. Sie beschreibt darin eine verstörende Zugfahrt von der Wolgaregion nach Samarkand – dorthin, "wo vielleicht das Leben wartet".
Russland 1923: Der ehemalige Rotarmist Dejew bekommt den Auftrag, fünfhundert Kinder zu retten. Von Kasan durch die Wälder der Wolga über den Aralsee und die Kysylkum Wüste bis nach Samarkand, ins heutige Usbekistan. Dafür organisiert Dejew einen Zug, um die verwahrlosten Kinder transportieren zu können, kleine Skelette mit aufgeblähten Bäuchen und kahlgeschorenen Köpfen. Doch für die Fahrt mangelt es an allem.
Gusel Jachina gehört zu den wichtigsten Autorinnen der russischen Gegenwartsliteratur. Stets nimmt sie sich ein dunkles Kapitel der sowjetischen Geschichte vor und erzählt von den hellen Seiten des Menschen, schafft lebensnahe Figuren und beschreibt alles in einer bildhaften Sprache.
In "Wo vielleicht das Leben wartet" widmet sie sich der Kinderliebe von Personen, von denen man das nicht erwartet hätte, von Tschekisten, Soldaten, Kosaken. Alle Figuren haben gleichermaßen Gutes wie Böses in sich. Auf diese Weise setzt sich Jachina aber für geschichtliche Aufarbeitung, Verständigung und Frieden in ihrem Land ein.
Wie in ihren anderen Büchern beeindruckt die Autorin mit der filmischen Konzeption des Textes. Stimmen, Szenen, Bilder montiert sie elegant und temporeich ineinander. Obwohl unterschwellig klar ist, dass der Zug am Zielort ankommen wird, bleibt die Fahrt spannend. Wie die Autorin dem Schrecken die Zuversicht entgegenzusetzen versucht, ist beeindruckend. Das liegt auch an der vortrefflichen Übersetzung von Helmut Ettinger.
Eine Rezension von Corinne Orlowski
Literaturangaben:
Gusel Jachina: Wo vielleicht das Leben wartet
Aus dem Russischen von Helmut Ettinger
Aufbau Verlag, 591 Seiten, 26 Euro