Der namenlose Ich-Erzähler macht sich nicht viel aus Kunst. Doch durch Carl, einen kauzigen Mini-Dandy, der neu in der Abiturientenklasse ist und von dem er voller Bewunderung schwärmt, wird in nur zwei Tagen aus einem Kunstbanausen ein echter Kunstliebhaber.
Sonderlinge und Exzentriker gehören zum Repertoire des Spitzweg’schen Werkes. Und auch Eckhart Nickel scheut sich nicht, diese zu seinen Protagonisten zu machen. Die Schülerfreundschaft wirkt wie im englischen Internat mit hochgeschlagenen Polohemden, nein, noch weiter aus der Zeit gefallen, im feinen Tweet-Anzug.
Sie agieren ganz und gar nicht wie Jugendliche, eher wie Wes Anderson Charaktere, die charmant und cool, wortgewandt und vornehm, die Ehre ihrer Mitschülerin retten wollen. Sie scheinen direkt dem Hagestolz-Gemälde von Spitzweg entstiegen zu sein.
Der Hagestolz, der ewige Junggeselle aus dem Postkutschenzeitalter, ist für Nickel eine verheißungsvolle Figur, die er in unsere kontrollbesessene Gegenwart holt und mit Metareflexionen der Kunst des 19. Jahrhunderts umrahmt. Betörend liest sich das, wenn auch zuweilen die Sprache etwas hochtrabend, antiquiert wirkt.
"Spitzweg" schmeckt wie ein Pimm’s No.1 Cocktail der britischen Oberschicht: ausgewogen würzig und süß, nicht leichtperlig, nicht schwer, eher tiefsinnig und edel. Und spannend wird’s am Ende auch noch, denn Kirsten ist tatsächlich verschwunden.
Eine Rezension von Corinne Orlowski
Literaturangaben:
Eckhart Nickel: Spitzweg
Piper Verlag, 2022
256 Seiten, 22 Euro