Buchcover: "Seegang" von Tabitha Lasley

Lesefrüchte

"Seegang" von Tabitha Lasley

Stand: 18.11.2022, 11:11 Uhr

Die Journalistin Tabitha Lasley plant ein Buch über Offshore-Arbeiter, Männer, die monatelang auf Bohrinseln weitab von der Zivilisation leben. Sie will herausfinden, wie Männer sind, wenn sie keine Frauen um sich haben und zieht ins nordschottische Aberdeen, einen Treffpunkt für Ölarbeiter.

Das Problem ist, dass Lasley gerade eine langjährige, unglückliche Liebesbeziehung beendet hat und also selbst mit Trennungssymptomen kämpft. Die Gespräche, die sie führt, kippen rasch um in intime Begegnungen.

"Seegang" entwickelt sich so zu einem eigentümlichen Zwitter. Es ist eine Reportage über Offshore-Arbeiter und zugleich ein Memoir, das auf radikale Weise das Ich der Autorin in seinem Liebesverlangen und seinen Liebesverwicklungen entblößt. Lasley erzählt von der Monotonie des Arbeitsalltags auf den Bohrinseln, von Sicherheitslücken und Unfällen.

Eine Plattform, so erklärt ein Arbeiter, sei wie Dampfkochtopf, immer seien große Mengen Öl und Gas an Bord. Explosiv ist auch die Beziehung, die Lasley zu einem ihrer Gesprächspartner knüpft. Mit Caden, einem verheirateten Mann, fällt die Reporterin in einen Rausch exzessiver Leidenschaft und Intimität.

"Seegang" ist ein irritierendes Werk, das mal wie ein autobiografischer Roman, mal wie ein Sachbuch daherkommt. Die Übergänge sind scharfkantig. Das Bestechende an dem Buch ist die radikale Offenheit, mit der Lasley von ihrer eigenen Verlorenheit, ihrer Sehnsucht, ihrer Ernüchterung erzählt.

Die Ursprungsintension vergisst sie nicht, sie beobachtet, wie Männer ohne Frauen sind und enthüllt die Folgekosten einer sehr speziellen Profession. Vor allem aber ist "Seegang" eine große, rückhaltlose und wortmächtige Selbsterkundung.

Eine Rezension von Holger Heimann

Literaturangaben:
Tabitha Lasley: Seegang
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Luchterhand Literaturverlag, 2022
320 Seiten, 22 Euro