Lesefrüchte

"Die Nacht der Schildkröten" von Greta Olivo

Stand: 21.11.2024, 16:58 Uhr

Die junge Livia bekommt eine Schockdiagnose: Eines nicht allzu fernen Tages wird sie ihr Augenlicht verlieren. Greta Olivo zeichnet mit großem Einfühlungsvermögen die massiven Auswirkungen einer Sehbehinderung und das komplexe Psychogramm einer außergewöhnlichen Protagonistin.

Livia ist ein junges Mädchen. Sie hat blonde Haare, ein hübsches Gesicht und eine liebevolle Familie, mit der sie in Rom lebt. Livia mag Laufen, Lesen und ihre Freundin aus der Nachbarschaft. Was sie nicht mag, ist ihre Brille, die sie aufgrund einer früh entwickelten Kurzsichtigkeit tragen muss.

Doch Livia möchte einfach nur sein, wie alle anderen. So trägt sie bei einem Ferienlager heimlich Kontaktlinsen. Durch den unsachgemäßen Gebrauch entzünden sich ihre Augen. Bei einer Untersuchung erfolgt dann die Schockdiagnose: Livia leidet an einer unheilbaren Netzhautschädigung, bei der die Fotorezeptoren zerstört werden. Eines nicht allzu fernen Tages wird sie ihr Augenlicht verlieren.

Neben der über mehrere Zeitsprünge hinweg erzählten Erblindung Livias erzählt Greta Olivo in ihrem Debütroman "Die Nacht der Schildkröten" vom Alltag eines Mädchens, welches langsam zur jungen Frau wird. Da gibt es Jungs, für die sie schwärmt und Jungs, die für sie schwärmen. Da gibt es Liebeskummer, Partys, Schulstreiks, Ausreißer und dergleichen mehr.

Doch immer heftiger bricht die Krankheit über Livias Leben herein. Die Symptome verschlimmern sich rasch, wie sie bei einem Schulbesuch nach mehrwöchiger Unterbrechung feststellen muss. Es gilt, die verbleibende Zeit mit Sehkraft zu nutzen. In einer Einrichtung für Menschen mit Sehbehinderung lernt Livia Brailleschrift und bekommt einen Tutor, mit dem sie lernt, sich anhand ihres Gehörs zu orientieren.

Greta Olivo hat ein besonderes Thema für ihren Debütroman gewählt, und reüssiert dabei auf ganzer Linie. Sie begleitet den dramatischen Krankheitsverlauf ganz ohne Effekthascherei, sondern filigran und behutsam. "Die Nacht der Schildkröten" ist die leise Tragödie eines jungen Lebens, welches doch gerade erst beginnen sollte. Aber Livia lässt sich nicht unterkriegen und lernt schrittweise – im Schildkrötentempo - mit der Sehbehinderung zu leben.

Autorin Olivo ist eine mutmachende Geschichte gelungen, die zugleich sensibilisiert und inspiriert. Die organische Übersetzung Verena von Koskulls trägt ihr Übriges zur Wirkung bei. Ein Buch, das unter die Haut geht wie eine Tätowierung.

Eine Rezension von Moritz Holler

Literaturangaben:
Greta Olivo: Die Nacht der Schildkröten
Aus dem Italienischen übersetzt von Verena von Koskull
Rowohlt, 240 Seiten, 23 Euro