
Lesefrüchte
"Die Geschichte von Romana" von Sofia Andruchowytsch
Stand: 27.01.2023, 10:11 Uhr
"Amadoka" – das war laut Berichten der antiken Geschichtsschreiber Herodot und Ptolemaios der Name eines riesigen Sees, der sich einst auf dem Gebiet der heutigen Ukraine existiert haben soll. Wo aber ist er hin? Hat es ihn jemals gegeben? Und warum ist er verschwunden?
Die Schriftstellerin Sofia Andruchowytsch hat die Geschichte vom verschwundenen Amadoka-See zu einer Roman-Trilogie über die traumatische Geschichte der Ukraine inspiriert. Für die Tochter von Schriftsteller Juri Andruchowytsch wird Amadoka zur Metapher für das ungeheure Geschehen, das im 20. Jahrhundert so vielen Menschen das Leben gekostet, ganze Bevölkerungsgruppen und Kulturen der Vielvölker-Gesellschaft verschwinden lassen hat: der Holocaust und die stalinistischen Repressionen.
Nun liegt mit "Die Geschichte von Ramona" der erste Band der Amadoka Trilogie auf Deutsch vor. Der Roman erzählt die Geschichte eines mysteriösen Gedächtnisverlusts in der jüngeren Gegenwart. Ein namensloser Soldat ist traumatisiert und körperlich gezeichnet aus dem Krieg im Donbass zurückgekehrt. Er weiß nicht, wer er ist, weil er sein Gedächtnis verloren hat.
Die Archivarin Ramona glaubt, in ihm ihren verschollenen Mann zu erkennen. Sie erzählt ihm seine vermeintliche Familiengeschichte, damit er seine Identität zurückerhält. Aber der Mann erinnert sich und fragt: "Was, wenn es keine angenehmen Erinnerungen sind?"
In "Die Geschichte von Ramona" konfrontiert Andruchowytsch ihre Landsleute mit einem gewaltigen Geschichtspanorama, in dem kaum jemand frei von Schuld ist. Verdrängtes kommt auf den Tisch, Unterschlagenes findet seinen Platz. Selbstvergewisserung in der Gegenwart funktioniert nur, wenn auch die schmerzhaften Kapitel der eigenen Geschichte noch mal aufgeschlagen werden.
Westliche Leserinnen staunen über den traumwandlerisch sicheren Ton zwischen Epos und modernistisch angehauchten Bewusstseinsdarstellungen. Der Stoff ist nicht leicht, aber die literarische Umsetzung in eindringlichen Bildern sehr gelungen.
Ein herausfordernder Roman mit einer unzuverlässigen Erzählerin. Die Ukraine-Büchertische in den Buchhandlungen mögen überquellen. Aber die 40-jährige Sofia Andruchowytsch ist mit Sicherheit eine der interessantesten Stimmen der kriegsgebeutelten Nation.
Eine Rezension von Mareike Ilsemann
Literaturangaben:
Sofia Andruchowytsch: Die Geschichte von Romana
Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil und Maria Weissenböck
Residenz Verlag, 2022
304 Seiten, 25 Euro