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Buchcover: "Der junge Mann" von Annie Ernaux

Lesefrüchte

"Der junge Mann" von Annie Ernaux

Stand: 27.01.2023, 19:09 Uhr

Annie Ernaux reflektiert in "Der junge Mann" über ihre Vergangenheit und setzt die Erinnerung wie eine Archäologin Stück für Stück literarisch neu zusammen, macht sich selbst zu einer fiktiven Figur und damit auch zur Herrin ihres Lebens.

Die Erzählerin, wie in allen Büchern Annie Ernaux‘ weitgehend identisch mit der Autorin, ist durchaus stolz auf diese Affäre mit einem Studenten, der ihr Sohn sein könnte. Sie genießt die sexuelle Lust, die er bereitet, genießt es, mit ihm zu reisen, - natürlich auf ihre Kosten. Und sie genießt es, ihn in das bürgerliche Leben zu initiieren, ihm Manieren beizubringen. Denn der junge Mann ist arm, stammt aus einer nordfranzösischen Arbeiterfamilie und ist damit sozusagen so etwas wie ihr Alter Ego.

Die erzählerische Raffinesse dieses Textes besteht darin, dass sich in ihm das biografische Lebensthema der Autorin - ihr sozialer Aufstieg aus dem Proletariat - in der Gestalt eines anderen, eines Mannes, noch einmal materialisiert.

Die besondere literarische Qualität des "Jungen Manns" besteht darin, dass die Autorin kunstvoll diesen mit einem anderen ihrer Texte verknüpft. Denn von der Wohnung des Studenten in Rouen hat sie einen direkten Blick auf das Krankenhaus, in das sie als 23jährige wegen einer starken Blutung nach einer heimlichen Abtreibung transportiert wurde. Eben diese Abtreibung aber war das Thema ihrer im Jahr 2000 geschriebenen Erzählung "Das Ereignis".

Im „Jungen Mann“ kann sie sich endlich als eine Siegerin präsentieren, die ihr Erleben - und Leben - so im Griff hat, dass sie es leichthändig in eine Fiktion verwandeln kann.

Literaturangaben:
Annie Ernaux, Der junge Mann
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp, 2023
48 Seiten, 15 Euro